Alle auf Anfang - Roman
fallen. Geht zurück in die Küche. Stellt Frühstücksgeschirr auf ein Tablett.
Wie erklärt man einen Unfall?
Die Kleine will nicht auf den Schoß. »Willst du einen Kakao?«, fragt Urs. Sie will keinen Kakao. Sie läuft durchs ganze Haus und sucht die Mama. »Du hast gesagt, sie kommt, wenn ich schlafe!«, schreit sie. »Und dann habe ich geschlafen, und ihr wart beide weg!«
Sie steht im Türrahmen der Küche, wo Urs am Tisch sitzt wie eben in der Küche der Nachbarin, ein Haus weiter, an der gleichen Stelle, nur ohne Kaffeetasse jetzt. Er knetet seine Finger. »Ihr wart alle beide weg! Weg!!«, brüllt das Kind.
»Es ist etwas passiert«, sagt Urs. Warum will sie denn nichts trinken?
»Was?«, fragt das Kind.
»Vielleicht doch Kakao?«, schlägt er vor. Wild schüttelt sie den Kopf. »Was ist passiert?«
Die Worte steigen ihm hoch in die Kehle. Er schluckt. Er würgt. Er lässt seine Finger in Ruhe. »Warum bist du weggelaufen?«
»Du bist weggelaufen«, sagt die Kleine. Sie brüllt jetzt nicht mehr. Sie stellt jedes Wort einzeln mitten in die Küche: »Du. Bist. Weg. Gelaufen.«
Er möchte sie in den Arm nehmen. Aber dann brüllt sie wieder. Er streckt die Hand nach ihr aus. Sie bleibt stehen, hinter ihren Wörtern. »Die Mama ist im Krankenhaus«, sagt er. Jetzt stehen seine Wörter auch da, mitten im Raum.
»Warum?«, fragt das Kind.
»Sie schläft jetzt, es geht ihr gut«, behauptet er.
»Warum?«, fragt das Kind.
»Die Ärzte kümmern sich um sie. Wir können sie besuchen.«
»Warum?«, schreit das Kind.
Alma deckt den Frühstückstisch
Bestückt den Silberleuchter mit frischen Kerzen. Faltet Papierservietten zu Drachen. Geht in den Garten und schneidet ein paar Rosen vom Strauch. Legt sie in eine Schale mit Wasser und eine einzelne an Jaspers Platz. Er wird bald kommen. Sie hat alles vorbereitet. Um sicherzugehen, läuft sie ins Arbeitszimmer. Gerät ins Schwanken, taumelt gegen die Wand. Stößt sich ab und fliegt dem Schreibtischstuhl entgegen. Gnädig fängt er sie auf. Die Ankunftszeiten am Flughafen München, hämmert es in ihrem Kopf.
Der Bildschirm ist schwarz. Sie bewegt die Maus, und ein E-Mail-Fenster erscheint. Sie starrt die Wörter an und versteht nichts. Fremde Wörter in einer unbekannten Sprache. Belas Mail an seinen Sohn. Er hat sie gar nicht abgeschickt. Sie gleitet mit den Augen über die Zeilen, als täte sich dahinter eine Lösung auf. Aber alles bleibt, wie es ist. Sie hat Bela ausgeliefert. Schuldet ihm diesen Gefallen: wenigstens die Nachricht an seinen Sohn abzusenden. Der so alt ist wie Jasper.
Und wenn es eine Zeugenaussage ist? Wenn das, was da steht, sie selber einer Falschaussage überführt? Ihre Schuld aufdeckt? Aber sie hat doch gar nichts Falsches gesagt. Sie saugt einzelne Wörter aus der Nachricht und schmeckt sie ab. Versucht, am Klang einen Sinn zu erkennen. Vergeblich. Das kann alles bedeuten. Glück. Geld. Gefängnis.
Langsam bewegt sie den Cursor auf den Schließbefehl zu. Dann wäre die Nachricht gelöscht. Für immer. Oder verschwindet sie irgendwohin, in die Hinterkammern ihrer Festplatte? Wenn Jasper jetzt da wäre, könnte er ihr helfen. Er beherrscht diese Dinge virtuos. Als lebten sie in zwei verschiedenen Welten, sie diesseits und er jenseits dieser Halbleitergrenze.
Der Bildschirm wird schwarz. Und wenn sie jetzt einfach gar nichts macht, verschwindet alles von selbst. Sie ist Ärztin. Sie weiß, dass das nicht stimmt.
Urs parkt auf dem Besucherparkplatz der Klinik
Es ist genau derselbe Parkplatz, auf dem er heute Nacht gestanden hat. Über so etwas kann er sich freuen. Seine Tochter will im Auto bleiben, aber das geht nicht, seit dieser Nacht nicht mehr. Er löst ihren Gurt, verlegt sich aufs Bitten, später aufs Schimpfen. Schließlich zerrt er sie aus dem Kindersitz und zieht das zeternde Kind hinter sich her zum Eingang des Kreiskrankenhauses.
Gerade, als sie unter das langgezogene Dach treten, wird auf einer Rollbahre ein Patient zur Notaufnahme gebracht. Zwei Weißgekleidete, vermutlich Krankenpfleger, schieben die Bahre, und ein Polizist geht hinter ihnen her. »Was hat der Mann?«, will die Kleine wissen. »Vielleicht einen Unfall«, antwortet Urs und will schon »genau wie Mama« sagen, schluckt es aber hinunter. Sofort ist das Würgen wieder da. Er zwingt sich, tief durchzuatmen. Wenigstens er muss noch so sein wie sonst. Für Fee.
Die große Eingangshalle des Krankenhauses ist zugig wie ein Airport-Terminal. Und eigentlich
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