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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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abgelichtet werden, um das gerahmte Bild dann im Wohnzimmer zur Schau stellen zu können. Einige junge Burschen, die zum Militär gehen sollten, verlangten lauthals, ein Porträt ihrer Braut mit an die Front nehmen zu können. Icarus’ Bauern regten an, die Kühe und die Ernte zu verewigen. Und einige riefen: »Ich bin der größte Verrückte im Dorf!«, überzeugt davon, es so bis in die Zeitung zu schaffen.
    »Hester Prynne bei Monsieur Norrik!«
    Augenblicklich verstummten alle, auch Doktor Tarascon.
    Sie trat vor, geschmeidig und anmutig wie immer, ein Schwan auf einem See. Beim Hinsetzen schlug sie die Beine übereinander und löste ihr Haar. Ihre Lippen waren leicht geöffnet wie für einen Kuss.
    »Der Nächste, bitte!«, sagte Doktor Tarascon, und jedes Mal lag in der Zeit zwischen diesem Satz und dem Namen des Verrückten, der fotografiert werden sollte, ein angespanntes Warten, wer wohl aufgerufen werden würde. Es gab keine Liste, und so stellte jeder eigene Vermutungen an. Inzwischen nahm die Zahl der noch abzulichtenden Verrückten ab. Bange wartete man auf das Klopfen des Stocks und auf den Namen desjenigen, der als Nächstes katalogisiert, der Wissenschaft übergeben und unsterblich gemacht werden sollte.
    »Teresa Ohneruh!«
    Niemand hatte Tarascon darüber unterrichtet, dass ich nicht verrückt war, dass es nur ein Trick gewesen war, mein Gutachten gefälscht und nur dazu da war, mir eine Mitgift zu sichern. Ich war nicht traumatisiert, erschüttert und verwirrt aus der Kohlengrube gekommen. Ich hatte weder Krämpfe noch Sprechstörungen .
    Aber jetzt war es zu spät, obwohl ich gezögert hatte, mich nicht wie die anderen beeilt hatte, und Tarascon den Namen als Einzigen an diesem Tag wiederholen musste: »Teresa Ohneruh bei Familie Vanheim!« Madame Vanheim packte mich am Arm, doch ich riss mich los und ging mit erhobenem Haupt durch die Menge nach vorn. Die Leute waren erstaunt, keiner hätte geglaubt, dass ich verrückt bin. Zwar ging auch ich zur Kirche, doch war nichts Sonderbares an mir, ich war nicht wie Hester Prynne und auch nicht wie Halois oder Petite Colbert. Madame Vanheim war in Verlegenheit, Doktor Shepper ebenso. Jemand murmelte: »Sie auch?« Und: »Das hätte ich wirklich nicht gedacht.« Nur Tarascon wartete ungerührt auf mich. Auch der Fotograf wunderte sich nicht. Er kam zu mir, lächelte mir aufmunternd zu, legte mir die Hände auf die Schultern und erklärte mir, dass ich still sitzen müsse. Wie bei den anderen sprach er langsam und deutlich. Dann verschob er die Schnauze des Apparats und schoss das Bild. Ich zuckte zusammen. Ich war nicht verrückt, doch mein Gutachten und dieses Foto besagten das Gegenteil, und ich begriff, dass sowohl Tarascon als auch sein Assistent dem Glauben schenkten. Und vielleicht dachten jetzt alle: »Verrückt wie ihre Mutter.« Ich fragte mich, ob diejenigen, die ich stets für verrückt gehalten hatte, die auf den anderen Fotografien, es denn auch wirklich waren und ob der Grat wirklich so schmal war, ein Foto, ein Gutachten oder auch nur ein Schimpfwort, fou roux . Als ich vom Schemel aufstand, hatte ich plötzlich die Gewissheit, dass Sie geflohen waren, weil Sie Doktor Sheppers Worte und seine Sorgen um Ihre Gesundheit gehört hatten und Ihnen klar geworden war, dass er Sie in Geel behalten wollte. Deshalb hassen Sie Geel und wollen nicht über Geel sprechen, weil Ihnen dort zum ersten Mal ein Arzt sagte, dass Sie verrückt sind – so wie Doktor Tarascon es nun von mir behauptete und dieser Fotoapparat es bekräftigte, diese Platte, auf der mein Gesicht festgehalten war. Seit jenem Tag weiß ich, dass verrückt nichts weiter als ein Wort ist.
    Ich bin eine Verrückte.
    Und Sie sind ein Verrückter. Ein armer Irrer.
    Worte tun weh.
    Manchmal sind sie so scharf, dass sie zu Messern werden, die sich blutig ins Fleisch schneiden. Worte haben die Präzision eines Metzgers, der ein Kalb zerlegt.
    Verrückt.
    Immer gibt es jemanden, der dieses Wort sagt, bevor man es dann selbst benutzt.
    Ich ging zurück zu den anderen. »Ginevra Russel bei Jos Sturla!«, rief Tarascon. In diesem Moment wollte ich nicht einen Heller mehr von meiner Mitgift, ich wollte nur noch weinen und das nach Brüssel gesandte Gutachten zerreißen, ich fürchtete, mit den anderen in einen Topf geworfen zu werden. Sie machten mir Angst, alle machten mir Angst. Ich war nicht verrückt. Ich hasste Geel. Das war kein besonderer Ort, sondern ein Gehege, in das man Geisteskranke

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