Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
sperrte, ein Käfig, was der Schrecken aller Schrecken ist.

    Ich, der Unterzeichnete, Alphonse Tarascon, Doktor der Medizin, Professor der Anatomie an der Pariser Sorbonne und wohnhaft in Paris, gebe hiermit Folgendes zu Protokoll. Ich nahm in dem belgischen Ort Geel eine medizinische Untersuchung an Mademoiselle Teresa Ohneruh vor. Alter: circa fünfzehn Jahre, Größe: ein Meter achtundfünfzig. Die Patientin klagte über keine besonderen Beschwerden. Die Untersuchung fand auf den ausdrücklichen Wunsch des Vormunds der Genannten, Monsieur H. Vanheim, statt und stand im Zusammenhang mit einer Reihe von Untersuchungen an Personen des Dorfes, die an nervösen Störungen leiden.
    Der vorliegende Fall ist der außergewöhnlichste in meiner gesamten beruflichen Laufbahn.
    So begann das neue, von Doktor Tarascon verfasste Gutachten über mich.
    Ja, Monsieur van Gogh: Diese Untersuchung fand auf Betreiben von Madame Vanheim statt. Sie war alarmiert und machte sich Sorgen. Sie sah, dass ich traurig über Ihr Fortgehen war, hörte mich klagen, deutete dies als Zeichen von Zuneigung und argwöhnte noch immer, zwischen Ihnen und mir könnte das Unaussprechliche geschehen sein. Es war unklug gewesen, mich mit Ihnen allein zu lassen. Sie fürchtete, ich hätte mich nicht beherrschen können, oder, schlimmer noch, Sie könnten ein Vagabund sein, ein Gestörter und sich an mir vergangen haben. Nur so konnte sie sich mein Verhalten, unseren gemeinsamen Nachmittag und Ihren überstürzten Aufbruch erklären.
    Um festzustellen, inwieweit ihre Vermutungen zutrafen, fiel ihr nichts Besseres ein, als mich untersuchen zu lassen und so jeden Zweifel zu zerstreuen. Sie brauchte jemanden, der ihr bestätigte, dass ich noch Jungfrau war und kein rothaariges Kind im Leib hatte. Ich, die ich noch gar kein Blut hatte! Doch wer sollte mich untersuchen? Doktor Shepper auf keinen Fall, schließlich war er immer noch der königliche Inspektor des Dorfes und müsste dann womöglich Maßnahmen ergreifen. Würde er die Untersuchung vornehmen, könnte Madame Vanheim mich danach nicht zu den Zigeunerinnen bringen, wie man es mit der alten Ohneruh getan hatte. Doktor Tarascon hingegen würde in wenigen Tagen wieder abreisen, ohne sich darum zu kümmern, was aus mir wurde. Ja, Tarascon war genau der Richtige, und Madame Vanheim dankte Gott dafür, dass er gerade in Geel weilte. Tarascon würde nicht wissen, dass ausgerechnet ein Gast der Vanheims diesen Schlamassel angerichtet hatte. Er würde lediglich bemerken, dass solche Dinge eben vorkommen, nie hat man genug Augen, um auf flatterhafte Mädchen aufzupassen.
    Und wenn der Verdacht unbegründet war? Umso besser. Es ging nur darum, Gewissheit zu haben und den Albtraum abzuwenden, meinen Bauch wachsen zu sehen, oder, schlimmer noch, sich Icarus’ Zorn nach der Hochzeitsnacht zuzuziehen, wenn er den Betrug entdeckte, weil ich kein Blut auf dem Laken hinterließ. Man musste Tarascon dazu bringen, mich zu untersuchen, ohne dass er Hintergedanken vermutete, doch man musste sich auch klar ausdrücken, ihm zu verstehen geben, dass die Prüfung dort stattfinden musste, zwischen den Beinen. Kam der Wahnsinn denn nicht von dort? Monsieur Vanheim sollte als Vermittler fungieren, er sollte dem Freund mit suggestiven Worten gerade so viel erklären, wie unbedingt nötig war, damit der verstand. Denn die Leute interessieren sich nur für das, was zwischen den Beinen ist, das ist es, wonach die Welt urteilt ...

Ich habe eine Pause gemacht, aber ich muss weiterschreiben, darf jetzt nicht aufgeben, auch wenn ich das, was ich Ihnen zu sagen hatte, eigentlich schon gesagt habe. Die langen Nächte, in denen dieser langsame Brief entstand, waren nicht vergebens.
    Dennoch sollte ich Ihnen nun alles sagen, die ganze Wahrheit, sonst können Sie nicht verstehen. Aber noch habe ich mich nicht dazu durchgerungen. Ich habe große Angst, Monsieur van Gogh. Die Angst, Sie könnten dasselbe von mir denken wie alle anderen.
    Meine Rettung waren die Farben.
    Meine Rettung waren sogar die schmutzigen Handtücher. Die besudelten Bettlaken, die fleckigen Tischtücher, die angegrauten Hemden. Die vielen Stunden in der Wäscherei. Die von kaltem Wasser durchtränkten Stunden, in denen die Finger im Waschtrog rissig werden, die Seife den Gestank ausmerzt und es manchmal, wenn man ihren Duft einatmet, so scheint, als könnte das Leben doch noch gut riechen.
    Waschen ist hier meine einzige Beschäftigung. Ich habe es schon immer gern

Weitere Kostenlose Bücher