Alle Farben des Schnees
Weiß die Dächer. Von weißem Grau der Kirchturm. Milchig das Licht.
Heute morgen eine Mail von Rut Plouda. Sie schlägt vor, daß wir uns ab und an schreiben, allerdings auf romanisch. (Heute morgen bin ich glücklich.)
9. März
Matthias ist zehn Jahre alt. Wir schenken ihm »Atlantis« von Lego und einen ferngesteuerten roten Ferrari. Sein Kindergeburtstagsfest feiern wir nach, wenn Manfreds Antrittsvorlesung in Basel vorbei ist. Heute lädt er Fabio zum Mittagessen ein (Nudeln, Käse, ausgelassener Speck, Tomaten). Nach der Mittagsschule kommen noch Gian Luca und Lino, sie bauen zusammen das Lego fertig, mit dem Fabio und Matthias über die Mittagspause angefangen haben.
Alle Berge sind verschwunden. Der Kirchturm steht vor grauer Bastelpappe. Gegen Osten leichte Sonne, vereinzelt tauchen dort Gipfel auf.
Am Abend gehen wir in die neue Pizzeria in Scuol. Aus der langen Karte bestellen Fabio und Matthias gleich die erste Pizza: Margherita. Dann noch Eis. Sie lachen und blödeln. Ich denke, schade, daß Matthias kein gleichaltriges Geschwisterkind hat. Silvia und Andreas waren immer zu zweit. Aber in Sent ist er den ganzen Tag mit anderen zusammen. Iris hat einmal ein afrikanisches Sprichwort zitiert: »Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.«
11. März
Manfred kommt mit dem Hund vom Tierarzt. Er mußte am Ohr operiert werden. Nun trägt er einen hohen Trichter-Kragen. Er will ihn abstreifen. Das Tier mit Kragen versteht nicht, was los ist. Es schafft es nur mit Mühe die Treppen hinauf. Es muß ihm so vorkommen, als werde es von den Stufen weggestoßen. Es kann sich nicht lecken, auf einmal besteht die Welt aus unsichtbaren Widerständen. Der Hund sieht nur die weißen Ränder, die sein Gesichtsfeld einfassen. Er ist sich unverstanden fremd.
Es schneit wieder. Auf dem Balkon liegt eine dünne Schneeschicht. Es schneit zaghaft, dann munter, dann gleichmäßig in ganz feinen Flocken. Kein Himmel, keine Berge, immerhin ein Hauch von Kirchturm.
Zwei Stunden später:
Der Schnee auf dem Balkon beginnt an der Hausseite zu schmelzen. Bergspitzen und Hänge zeigen sich wie in Schleiern. Das Weiß hat sich zu Wolken gelichtet, hinter denen es fast blau schimmert.
13. März
Gestern bei Leta, der Lehrerin. Ich habe das Liederbuch »Mamma, mamma, randulinas!« mitgebracht. Ich will wissen, welche Lieder im Dorf gesungen wurden. Sie sagt es mir. Dann bringt sie das Schulliederbuch »Chantain« (1982) für die 1. bis 4. Klasse, bei dem sie mitgearbeitet hat. Damals bat man Autoren, auf Melodien Texte zu schreiben, und Komponisten, romanische Gedichte zu vertonen. Es wurden auch alte Lieder aufgenommen.
Dann singt sie. Wir sitzen am Küchentisch und sie singt einmal quer durch das Buch.
Sprachen lernen: Bei meinem ersten Aufenthalt in Griechenland, noch während des Studiums, wohnte ich mit einer Freundin auf der ionischen Insel Zakynthos bei einer Hirtenfamilie. Wir hatten ein weißgetünchtes
Zimmer, an dessen Wänden Geckos hingen. Auf dem Hof gab es einen Gaskocher. Ich konnte kein Wort Griechisch. Aber einmal rief die Hausfrau ganz empört: To nero vrasi! Und ich habe sofort verstanden, wir sollten doch aufpassen: Das Wasser kocht!
In Sent war mein erster Satz, den ich verstanden habe, als Uorschla am Brunnen sagte: Il chan baiva l’aua. Der Hund trinkt Wasser. (Im Unterschied zur griechischen Hirtin sagte Uorschla den Satz, damit ich mit ihrer Sprache vertraut werde.)
15. März
Ich bügle die alte Chalandamarz-Bauernbluse, die Matthias getragen hat. Im heißen Wasserdampf des Eisens steigt der Geruch von Stall und Heu auf.
Ich bügle auch 21 große Leinenservietten mit der Prägung »Alpenrose Schuls«. Wir haben sie in der Brockenstube, dem Trödelladen am Eingang von Scuol, gefunden. Sie sollen als Tischdecken für Manfreds Apéro nach seiner Antrittsvorlesung dienen. Wir bringen Trockenfleisch und Wurst und Käse, Wurzelbrot und Nußtorte aus Sent mit. (Nein, wir fühlen uns nicht als Schweizer, als Neubündner vielleicht. Aber wenn wir morgen in Basel stehen, sind wir aus Sent.)
18. März
Es war ganz leicht, den Kindergeburtstag zu verlegen. Matthias ist am 9. März geboren. Heute ist der 18. Und eins plus acht macht ja auch neun. Er war sofort überzeugt. Elf Bergkinder sind zum Mittagessen gekommen. Manfred und Andreas sind noch in Basel; Silvia ist da, ich bin froh, daß sie hilft. Die Kinder fallen ein, sie werfen ihre Schulranzen auf einen Haufen, auf einen
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