Alle Farben des Schnees
anderen legen sie die Geschenke, die sie mitgebracht haben. Sie holen ihre Hefte heraus, bilden einen Kreis am Boden und machen zusammen Mathematikhausaufgaben. Das geht schnell, sie beraten sich gegenseitig, sie schreiben auch voneinander ab. Danach erst kommen sie an den Tisch. Es gibt Hähnchen und Pommes frites. Sie essen mit den Fingern. Was, du ißt mit Messer und Gabel, sagt ein Junge zu einem andern, der offensichtlich kurzfristig meinte, er müsse das tun. Beliebt sind die Hähnchenschlegel, die lassen sich am besten abnagen. Ein Junge antwortet mir auf deutsch, ein anderer macht ihn sofort nach, die einzelnen Worte betont ziehend: biet-te ei-nen O-ran-gen-saft! Unter den Kindern gilt es als affig, deutsch zu sprechen. Dann spielen sie Verstecken. Ich kenne das vom letzten Jahr. Sie lieben die alte Luke, über die man von unserem Kücheneßplatz hinunter in die Arvenstube steigen kann. Während ein Junge zählt, verschwinden die anderen über die Treppe oder tauchen in der Luke ab; sie krabbeln an den Balken des ausgebauten Dachstuhls hoch. Sie rennen
zu Winkeln und Schränken, springen auf Simse an Fenstern, stehen hinter Vorhängen, liegen im Schrank. Es geht vorbei, denke ich mir und räume langsam den Tisch ab. Es ging auch letztes Jahr vorbei. Was sagen sie? fragt Silvia immer wieder. Da wird mir klar, daß ich die Kinder doch ganz gut verstehe. Silvia sagt: sie sind so gut gelaunt! Matthias fällt unter ihnen nicht auf. Auf einmal sehe ich draußen auf dem Balkon eine Kinderhand, die von unten nach oben greift. Dann noch eine Kinderhand. Es sind sicher vier Meter bis hinunter auf die Wiese. Ich gehe ganz vorsichtig hinaus. Ich darf das Kind jetzt nicht erschrecken. Vielleicht kann ich es noch hochziehen! Ich beuge mich über das Holzgeländer. Da strahlt mich Fadri, der am Balken hängt, an. Er ist aus dem Badezimmerfenster geklettert. Mit einem Klimmzug kommt er hoch und zieht sich über das Geländer. Ich habe eine Ewigkeit nicht geatmet. Mach das bitte nie wieder, sage ich. Er grinst. Und schon kommt Livio hinterher. Fadris Vater, der Förster, hat in Sur En, einer Fraktion von Sent unten am Fluß, einen Seilpark installiert, dort hangelt Fadri in einer Höhe von zwölf Metern, seine Mutter war Skirennläuferin. Livios Vater ist Bauer und Skilehrer. Offensichtlich sind diese Kinder körperlich anders sozialisiert. Du mußt keine Angst haben, wir machen das schon, sagt Livio jetzt mit einem engelsgleichen Lächeln und sehr langsam in gut verständlichem, therapeutischem Deutsch.
Sie essen auch Torte und machen mit bei kleinen animierten Spielen und bei der vorbereiteten Schatzsuche
durchs Dorf. Aber Verstecken im alten Haus spielen sie am liebsten. Nur sie alleine, ohne Erwachsene.
Am Abend geben sie mir alle einzeln die Hand und sagen: danke, Angelica.
20. März
Zurück von einem Schreibworkshop in Schömberg, Schwarzwald. 14 Frauen zwischen Mitte 60 (eine Hauptkommissarin in Rente) und Anfang 20 (Musikstudentin, Cello) sind gekommen. Ich habe Silvia gebeten, mich zu begleiten. Freundliche Runde in einem Ambiente von Jägersoße und Teppichboden. Wir lesen Musils Fliegenpapier, den kleinen Text über Fliegen, die auf einem mit Leim eingestrichenen Papier langsam sterben. Es geht um Insekten, aber die Vergleiche unterlaufen die konkrete Beschreibung der Tiere hin auf das, was menschlich ist. Ich habe diesen rund 100 Jahre alten Text in verschiedenen Schreibgruppen gelesen. Er ist immer noch frisch.
Eine Frau erzählt mir, sie sei mit ihren Kindern gerne auf den Friedhof gegangen. Da habe es einen schönen alten Baumbestand gegeben, mitten in der Stadt. Und dann habe sie die Kinder einfach ausrechnen lassen, wie lange ein Mensch gelebt hat. Grabsteine als Mathematikaufgaben.
In Karlsruhe steigt Silvia in den Zug nach Hannover, ich in den Zug Richtung Basel. (Ich warte jedes Mal darauf,
wann sie mich auf den Zug bringt und nicht mehr ich sie. Dann bin ich alt.)
Basel, Zürich. Fahrt durch die Nacht nach Landquart. Jugendliche in Sportkleidung. Ein Mädchen im Skianorak mir gegenüber liest in Noten, steigt in Schiers aus. Da ist ein Musikgymnasium, glaube ich. Umsteigen in Klosters.
Manfred holt mich am Bahnhof in Scuol ab. Fast laue Nacht. Auf Champatsch habe es geschneit, sagt er, auf Motta Naluns geregnet. Man kann noch ins Dorf abfahren.
Sonntag, 21. März
Flurin, der Sohn des Tierarztes, hat uns eine Einladung zum Apéro geschickt. Heute ist der Tag seiner Konfirmation. Im hohen
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