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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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Ich hatte seltsame Bauchschmerzen, schon den ganzen Tag, schon den Tag davor. Ich sah wohl auch ein wenig komisch aus. Komm mit, hat Iris über den Holztisch hin gesagt, ich schau mir das gleich einmal an. Ich wollte nicht, aber ich konnte kaum mehr gehen. Ich habe mich auch ein bißchen geschämt. Ich habe nicht geduscht,
sagte ich. Ich führe hier eine Landarztpraxis, hat sie geantwortet, bei mir kommen Patienten nach Unfällen auch schon mal direkt aus dem Stall. Sie hat sofort eine Blutuntersuchung gemacht, eine gynäkologische Untersuchung. Gebärmutterentzündung. Ich bin froh, sagte sie, daß du noch vor dem Wochenende gekommen bist.
    Iris ist Hobbytaucherin; in den Maiferien fährt sie regelmäßig mit Linard, der Tauchen gelernt hat, nach Ägypten. Sie ist Gründungsmitglied eines Senter Lesekreises. In vierzehn Tagen fahren sie über ein langes Wochenende mit dem Zug nach Prag. Auf Kafkas Spuren. Und sie lesen einen Roman, der von dem Zug handelt, in dem sie fahren.

4. März
    Rut Plouda zum Abendessen. Ich hole sie vom Postbus ab. Es schneit. Der Schnee fällt auf ihren Hut, ihren bunten Schal. Sie legt getrocknete Feigen und Aprikosen auf den Tisch. Der Gürtel um ihre Hüfte scheint mehr zu wiegen als sie selbst. Sie ist im katholischen Tarasp geboren, hat als Primarlehrerin in Ftan gearbeitet. Heute unterrichtet sie Kinder mit Lernschwierigkeiten. Wir sprechen über das Romanische, übers Romanischlernen. Sie war Manfreds Romanischlehrerin.
    Sie erzählt: mit 17 Jahren kam ich nach Genf zu einem Studentenpaar. Die Frau war früh schwanger geworden,
er war Chemiker, sie »mußten« wohl heiraten. Ich habe im Haushalt geholfen bei diesen Intellektuellen, ich, ein Mädchen aus dem Dorf. Es sei ihr erster Kontakt mit einer Welt der Bücher, der Musik gewesen. Einmal habe die Frau gesagt, es sei doch schade, daß sie eine Sprache spreche, die aussterbe. Da habe sie gewußt, daß sie zurück wollte und Lehrerin werden. (Zuvor habe sie sich das nicht zugetraut.) Sie hat einen neun Jahre älteren Mann geheiratet. Einen Förster. Er nahm auch die ganz kleinen Tiere ernst, sagt sie, vielleicht habe ich mich auch deshalb in ihn verliebt. Sie ist Mutter von zwei Töchtern. Und Großmutter von drei Enkeln. Ihren Sohn, ein Kind mit dem Downsyndrom, hat sie verloren, als er 19 Jahre alt war. Schon bevor wir nach Sent gezogen sind, habe ich das schmale Buch über ihr Leben mit ihrem Sohn gelesen, »Wie wenn nichts wäre / Sco scha nüglia nu füss«; 2001 war eine zweisprachige Ausgabe erschienen. Sie sagt, sie möchte vielleicht noch einmal etwas über ihre Kindheit schreiben.
    Draußen schneit es.
    Später zitiert sie ein Gedicht von Christine Lavant: »Während ich Betrübte schreibe/ funkelt in der Vollmondscheibe jenes Wort …«
    In der Nacht lese ich noch einmal in Ruts Buch:
    »Die Kakteen auf dem Sims in der Küche reichen kaum bis zum Fensterrahmen. Ich gebe ihnen ein wenig Wasser und stelle mir die Wüste vor. Die Farbe des Sandes, die Felsen, den Geruch der Karawanen. Ich habe die Wüste gern. Aber ich kenne sie nicht. Ich gebe
meinen Kakteen von Zeit zu Zeit Wasser, nehme mit dem Lumpen auf, was ich verschüttet habe, und sehe, daß draußen Winter ist.«

6. März
    Luzern. Vor der Lesung mit Silvia in der Rosengart-Galerie. Unter Bildern vergeht die Zeit langsamer. An den Wänden gesammelte Zeit. Am Abend auf der Bühne beim Blick ins Publikum das plötzliche Empfinden, nichts mit der Situation zu tun zu haben. Ich bedanke mich für die Einladung nach Basel. Unruhe in der matten Dunkelheit des Saals. Ich erschrecke und korrigiere: Luzern. (Ich lese, mich schämend. Hinterher entschuldige ich mich bei der Veranstalterin, aber niemand scheint es mir übel zu nehmen. Ein Versprecher eben.)

7. März
    Sent. Der Abstand. Schreiben ist ein paralleles Leben. Man ist dauernd in Gefahr, dem guten Alltag abhanden zu kommen. Oft habe ich Angst vor Menschen, weil mir die Sprache fehlt. (Ich schaffe den Sprung nicht vom Text ins Gespräch, in die andere Dichte.) Im romanischen Dorf ist die Situation radikaler als in Tübingen. Die Sprache fehlt, und ich soll in einer Fremdsprache sprechen. (Damit ist sie aber auch klarer. Natürlich fehlt
die Sprache, weil ich zu viel von ihr will.) Wäre manchmal Schweigen Heimat? Ich muß lachen: oder doch das Handy?

8. März
    Sonne, aber alles weiß. Der Himmel ist weiß, die Berge. Nur an den steilen Hängen, wo der Fels langsam in die Bäume übergeht, scheint dunkler ein Grau.

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