Alle Farben des Schnees
»du«. Der Redakteur gab mir einen Scheck und sagte: Fahren Sie für 14 Tage nach Benin und bringen Sie eine gute Geschichte mit.
Vor unserem Umzug nach Sent bin ich die Strecke Tübingen - Sent mit dem Fahrrad gefahren: auf die Schwäbische Alb, hinunter an den Bodensee, das Rheintal entlang, dann durchs Prättigau, über den Wolfgang-Paß nach Davos, auf den Flüela-Paß; hinunter ins Unterengadin, hinunter nach Scuol und hinauf nach Sent. Ich wollte den Weg aus eigener Kraft zurücklegen. Es hatte etwas von Abwehrzauber. Die Senter, erfuhr ich später, machen etwas Ähnliches. Alle zwei Jahre wandert das Dorf in Gruppen von mindestens drei Erwachsenen (Kinder dürfen nicht mitkommen) das weitläufige Gemeindegebiet ab. Die Durchquerung, die Traversada von knapp 36 km, beginnt bei der Heidelberger Hütte kurz vor Österreich und endet bei der Sesvenna-Hütte an der Grenze zu Italien.
Donnerstag, 25. März
Leichter Nebel über dem Piz Pisoc. Der Wetterbericht hat Schnee angesagt. Seltsam, wie ein weißer Himmel die Zeit zu verzögern scheint. Manfred ist mit dem Bus
unterwegs zum Bahnhof, wie jeden Donnerstag fährt er nach Basel. Morgens vier Stunden hin, am Abend vier Stunden zurück. Dazwischen zwei Seminare und eine Sprechstunde. Er muß aber nur in Landquart umsteigen. Im Zug kann er den Unterricht vorbereiten, lesen. Ich glaube, in einem Bahnabteil ist es für ihn ruhiger als bei uns. Nur der Schaffner hat das Recht, ihn anzusprechen.
(Aber, denke ich manchmal, wenn Manfred und ich nicht so verschieden wären, wären wir nicht über 30 Jahre lang zusammengeblieben. Ich habe mich mit ihm nie gelangweilt. Wenn ich ihm das sage, seufzt er tief und sagt: Ich mich mit dir auch nicht.)
Matthias hat erhöhte Temperatur, Kopfschmerzen. Ich habe den Lehrer angerufen. Die Hälfte meiner zwei Sätze habe ich auf romanisch hinbekommen. Er hat auf romanisch geantwortet. Glückssekunden. So begann der Tag mit einem Erfolg. Die Schulglocke ruft die Kinder.
27. März, abends
Gestern zu Leta Semadeni. Als ich um 16.34 Uhr in Scuol in den Zug stieg, regnete es. In Lavin schneite es. Dann saßen wir vor ihrer großen Glasfront und sahen durch die Scheibe in die Flocken. Es war, als ob das Sprechen über Gedichte den Schnee provozierte. Und
im Schnee kamen Letas Tiere: der Fuchs, der Siebenschläfer, die Kuh und Kasimir, der Liebeskummer hat.
Beim Heimweg kommt der Zug mit Verspätung. Auf der Straße hoch nach Sent sind zwei Autos liegen geblieben. So viel Schnee.
Heute morgen ein Himmel von hellstem, stärkstem Blau. Sonne. Wir entscheiden uns spontan, Ski fahren zu gehen. In einer halben Stunde sind wir auf der Piste.
Hinter dem Taslaina-Hof ist die Abfahrt hinunter nach Sent nicht mehr gespurt. Hoher Schnee. Er ist weich, aber nicht schwer.
Wir können Ende März noch mit Skiern nach Hause abfahren.
29. März
Romanischunterricht mit Nesa. Wir sprechen über die verschiedenen Mineralwasserquellen. Ruedi ist Spezialist, er füllt sich regelmäßig seine Bügelverschluß-Glasflaschen ab mit Bonifacius-, Carola-, Lucius-, Sfondraz-, Sotsass-, Lischanawasser. Christian aus Brail lacht, da müsse man schon vom Unterengadin sein, im Oberengadin sei das kein Thema. »Unterengadiner Fenster«, sagt Nesa, eine geologische Besonderheit. Zwischen Guarda im Unterengadin und Prutz im Tirol ist die Erosion in den letzten anderthalb Millionen Jahren so weit fortgeschritten, daß der Bündnerschiefer,
der von kristallinen und dolomitischen Gesteinsdecken überlagert war, herausgekommen ist. Im Bereich Ftan-Scuol-Tarasp-Sent entspringen, je nachdem, wie lange das Wasser welches Gestein durchflossen hat, 20 verschieden angereicherte Mineralquellen. Sie enthalten Calcium, Magnesium, Natrium, Kalium, Eisen, Clorid, Sulfat und natürliche Kohlensäure. Ich gieße Christian aus der Karaffe nach. Und gebe schrecklich an: Wenn wir in Sent den Wasserhahn aufdrehen, bekommen wir Wasser aus dem Uina-Tal, auf der anderen Seite des Inns. Die Quelle liege etwas höher als Sent, so daß das Wasser über eine Wasserleitung hinunterfallen kann und durch den Druck direkt zu uns hinaufkommt.
Das Wetter kann sich nicht recht entscheiden. Wenn die Sonne durch die Wolken bricht, ist es sofort T-Shirt-warm; wenn sie hinter Wolken verschwindet, ist es augenblicklich kalt. Der schnelle Licht- und Wetterwechsel in den Bergen. Immer noch Schnee auf dem Rezia-Dach. Er rutscht dick, schmilzt. Wie Teig ändert er täglich ein wenig seine
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