Alle Farben des Schnees
danach einen Freund in Basel. Pendelnde Kinder.
1. März, Chalandamarz
Chalandamarz kannten wir aus dem »Schellenursli«, dem neben »Heidi« wohl bekanntesten Schweizer Kinderbuch. Der kleine Schellenursli bekommt am 1. März für den Umzug durchs Dorf, bei dem die Kinder mit den Kuhglocken den Winter ausläuten, nur eine kleine Glocke und wird deshalb ausgelacht. Heimlich macht er sich auf durch den Schnee, um die große Glocke aus dem hochgelegenen Maiensäss zu holen. Als er am Abend nicht zu Hause ist, sucht ihn das Dorf und alle sind beunruhigt. Umso größer ist die Freude, als er am nächsten Tag wohlbehalten mit der größten Glocke zurückkommt. Und er, der Kleinste, darf nun den Chalandamarz-Zug der Dorfkinder anführen.
Chalandamarz ist aus dem Bilderbuch in unseren Jahreskreislauf gekommen. Seraina hat Matthias einen blauen Bauernkittel ausgeliehen (einen selbstgenähten, von Uorschla), ihr Mann Jöri gibt ihm eine Glocke. Die rote Mütze haben wir selber und ein rotes Halstuch.
8.45 Uhr: das Dorf widerhallt von den Glocken. Der Klang von 90 Kindern wie von Kühen. Buben schütteln die schwere Glocke wie unruhige junge Tiere. Die Mädchen bewegen sie wie Instrumente. Ein Sonnentag, ein Himmel aus tiefem Blau. Sie treffen sich vor der Kirche; die nächsten zwei Stunden werden sie an den Senter Brunnen singen:
Avant Baselgia, Bügliet, Sala, Stron, Surataglia, Vidos, Schigliana, Archas Sura, Archas Sot, Bügl Süt, Curtin Sura, Curtin Sot, Plazzetta, Saglina, Fora da Büz, Chasellas, Plaz und zum Abschluß noch vor der Post.
Bei Schigliana, nach etwa der Hälfte, gibt es Tee und Kuchen. Das halbe Dorf und Feriengäste folgen den roten Mützen, den blauen Hemden, den Glocken. Ältere Schüler tragen Tracht, manche Jungen rauchen Pfeife, halten einen Stock, der oben einen Quirl mit vier Streben bildet, ein altes Gerät zum Brechen der gestockten Milch beim Käsen. Andere Buben knallen mit langen Peitschen den Winter fort. Zwei Schüler, ein junger Mann, eine junge Frau aus der letzten Klasse, sind Einsänger. Sie blasen in ein kleines, rundes Gerät und geben den ersten Ton vor. Manche Lieder werden dreistimmig gesungen. Die Lehrer gehen mit dem Dorf und den
Feriengästen den Kindern nach. Chalandamarz ist eine Sache, die die Schüler alleine durchführen.
Die Einsängerin trägt eine weiße, am Saum mit Blumen bestickte Leinenschürze, darunter einen blauen Faltenrock aus gewebter Wolle und ein kurzes, in Perlmuster gestricktes helles Jäckchen. Auf einmal - die roten Mützen, die blauen Hemden sind eine hohe Gasse hinaufgestürmt - lehnt sie sich an den Brunnen und trinkt. Sie trinkt mit der Hand aus dem Strahl. Der Segantini-Moment. Ich sehe sie trinken und sehe zugleich die Überblendung. Die Szene ist schön. Ist sie schöner noch durch das zugleich auftauchende Bild?
Am späten Nachmittag ist der Weg über dem Friedhof voller Schlamm. In Schneematsch und verkrustetem Eis stehen Pfützen aus Schmelzwasser. Der Schnee fault. Tanja, die Tochter von Mina und Jürg, kommt mit ihrem Pferd und dem staksigen Fohlen. Ich halte den Hund fest und lasse sie vorbei. Das Einjährige springt über die Schneewiesen. Es bleibt stehen, sieht zu Tanja und seiner Mutter zurück. Und springt weiter. Tanja ruft, aber das Fohlen will nicht kommen. Dann steht es weitab reglos da. Wie vor einer grundsätzlichen Entscheidung.
2. März
Die Nacht war kalt. Am Morgen ist der Weg wieder gefroren, unebene Verwerfungen aus Eis und altem Schnee. Diffuses Licht, in der Höhe helles Blau und weiße Wolken. Ich drehe mich um und sehe über dem Dorf einen hohen, in sich drehenden Schwarm von Staren. Die Angst ist da. Und dann gehe ich den Weg weiter, und die Angst schwindet. Es gibt keinen Grund, denn das Gehen mit dem Hund ändert nichts. Vermutlich sind wir sehr viel mehr Körper, als wir wissen. Wir reagieren auf Licht, Luft, die Selbstverständlichkeit der Berge. Es ist einfach, da zu sein.
Es ist warm, ich muß den Anorak öffnen. Ich denke an Leta, die Lehrerin, die mir erklärt hat, was »porta samada« ist: Wenn der weiche Frühjahrsschnee über Nacht anfriert, dann hat er morgens für eine kurze Weile eine Eisschneedecke, die fest ist, die trägt. Es ist kurz nach neun Uhr. Ich weiche vom Weg ab und probiere »porta samada« aus und es gelingt noch, fast. Vorsichtig laufe ich über die gefrorene Schneedecke. Neun Schritte trägt sie, beim zehnten breche ich knietief ein. In wenigen Minuten wird es nicht mehr
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