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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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gehen.
     
    Chalandamarz-Ball in der Sporthalle der Schule. Es gibt zwei Musiker, Volkslieder und Schlager, eher aus den Siebzigern. Auch der Ball ist Sache der Schüler. Sie tanzen frei, aber sie haben im Unterricht auch die traditionelle Polonaise eingeübt. Auf der Bühne formieren
sich nun alle Schüler zu Zweier-, zu Vierer-, zu Achtergruppen, die sich voneinander weg und aufeinander zu bewegen. Die Kleinform ist das Paar. Ich weiß von Matthias, daß es sehr wichtig ist, wer sich mit wem zur Polonaise verabredet, und daß die Polonaise lange geprobt wird. Am Ende halten sich alle an den Händen, kommen herunter von der Bühne und laufen durch die Gänge zwischen den Tischen und Bänken. Sie sind eine Gruppe, die sich wandelt, öffnet und schließt, die sich verzweigt und immer wiederfindet. Die großen Schüler geben die Zeichen für den Wechsel der Figuren.
    Gegen Mitternacht ein Kreisspiel: die Jungen bilden einen Innenkreis, stehend, die Mädchen laufen als Außenkreis an den Jungen vorbei. Alle klatschen zur Musik. Wenn sie aufhört, müssen sich die Jungen ein Mädchen greifen. Einer bleibt übrig, die Musik geht weiter. Das Ganze dann auch umgekehrt, der stehende Innenkreis aus Mädchen, der laufende Außenkreis aus Jungen. Ein Mädchen in türkisfarbener Bluse bleibt zweimal allein. In der dritten Runde faßt sie beherzt nach einem Jungen, der zwei Köpfe kleiner ist als sie. Aber sie hat ihn. Es ist ein altes Spiel, nach einer alten Musik. Sie spielen es neu. Sie mögen es noch.
    Von 20 bis 22 Uhr war ich eingeteilt für das Buffet. Cristina mit den schwarzen Locken, Logopädin und die Frau von Andri, unserem Treuhänder, sagte, daß wir heute Abend einen Romanischkurs machen und sie nur romanisch mit mir spreche. Wenn es aber ernst wird und ich nicht verstehe, daß ich das heiße Wasser mit den
Viennaisas, den Wiener Würstchen, zurückdrehen soll, sagt sie es doch auf deutsch. Das Deutsch ist immer die letzte, schlechte Rettung. Warum fällt mir das Romanische so schwer? Mit Neid sehe ich ein Schweizer Paar aus dem Unterland, das auch nicht länger hier lebt als wir. Die beiden sitzen an einem Tisch mit den Einheimischen und sprechen fließend.
     
    Nachdem ich beim Buffet geholfen habe, möchte ich heimgehen. Nein, ich möchte nicht heimgehen, aber ich weiß nicht, wohin, zu wem ich mich setzen soll. Die Tische sind nicht zufällig belegt. Das sehe ich, ohne die Ordnung genau benennen zu können. An einem Tisch sitzen die Lehrer, ganz vorne.
    Matthias ist nicht zu bewegen, mit nach Hause zu kommen. Er hat rote Backen. Er tanzt mit Lino, Fabio und Gian Luca Kreistänze. Sie drehen sich, bis ihnen schwindelig wird. Auch zu zweit. Dann spielen sie Fangen zwischen den Tischen. Die Bühne ist voller Kinder und Jugendlicher. Manchmal kommt auch ein erwachsenes Paar dazu und tanzt. Die beiden Schweizer aus dem Unterland, die Romanisch sprechen, und der englische Bergführer mit seiner Frau, die aussieht wie Geraldine Chaplin, und Lehrer Andri und seine Frau Gianna Bettina. Nicht alle kenne ich. Es scheinen keine Touristen im Raum zu sein. Ich möchte Matthias nicht alleine dalassen, es ist schon spät. Ich gehe durch den Raum langsam zurück.
    Da sehe ich Iris. Sie sitzt am Ende eines Tisches. Ich
setze mich ihr gegenüber. Wir kaufen noch eine Punktekarte und mit der Punktekarte eine Halbliterflasche Weißwein. Die 900-Einwohnergemeinde Sent hat mit Iris eine Ärztin, und da es im Dorf keine Apotheke gibt, darf sie eine Apotheke in der Praxis haben. Iris behandelt auch Patienten aus Zürich, deren Hausärztin sie ist. Es sind oft Menschen, die in Sent eine Ferienwohnung haben. Hier haben sie Zeit, und Iris gibt ihnen mehr Zeit als ein Arzt in der Stadt. Iris kommt aus Norddeutschland, sie ist auch Anästhesistin. Als Notfallärztin ist sie in Helikoptern geflogen. Sie ist geschieden. Ihr Mann, erzählt sie, sei zwölf Jahre jünger gewesen als sie, ein Engadiner Skilehrer! Ich weiß schon, warum ich ihn geheiratet habe, sagt sie, ich habe mit ihm meine Pubertät nachgeholt. Sie lacht. Sie waren fünf Jahre verheiratet. Nach der Geburt ihres Sohnes Linard haben sie sich getrennt. Sie als Ärztin und er eher als Familienmann, der sich um das Kind kümmert: dieses Projekt wollte nicht gelingen. Iris ist in Sent geblieben. Linard ist jetzt neun.
     
    Einmal hat mich Iris nachts in ihre Praxis mitgenommen. Es war an einem Samstag, nach einer Lesung in der Grotta da cultura. Wir waren noch kurz zusammengesessen.

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