Alle Farben des Schnees
Heuwagenflur sitzt die ganze Nachbarschaft zusammen. Kinderbilder von Flurin werden herumgereicht. Jetzt ist er groß. Er gehört zu den Erwachsenen. Am Abend gibt es sicher ein Familienfest, aber es ist wichtig, die Konfirmation mit der Nachbarschaft zu feiern.
Später frage ich Matthias, ob er auch konfirmiert werden möchte, dazu müßte er aber vorher getauft werden. Ich sage, ich wollte nur fragen, seine beiden großen Geschwister hätten wir auch gefragt. Er schaut mich verständnislos an. Ich sage: wenn alle zur Konfirmation gehen und ein Fest haben, dann willst du das vielleicht
auch. Aber ein Fest könnten wir auch so machen. Er liest weiter in seinem Comic. Das Thema scheint ihn nicht zu interessieren. Auf einmal schaut er auf und sagt: ich will Senter werden. Muß ich dazu getauft sein?
In Sent, dem reformierten Dorf, gehen alle Kinder in denselben Religionsunterricht, die ungetauften und die getauften, die reformierten, die katholischen, auch die beiden muslimischen Kinder aus Kosovo. Wenn Matthias nach Gott fragt, sage ich immer: natürlich gibt es Gott. Aber wenn Gott Gott ist, wird der Mensch ihn kaum begreifen können. Wie es verschiedene Sprachen gibt, gibt es verschiedene Vorstellungen von Gott. Matthias war mit dieser Antwort, die ich in Varianten gebe, bislang zufrieden. Ich glaube, es gefällt ihm, daß sein Name »Gottes Geschenk« heißt. Geschenke findet er gut.
Im Garten die unverwüstlichen blau-violett-gelben wilden Hornveilchen. Es sind die letzten Blumen und die ersten. Wenn die Schneedecke weg ist, blühen sie schon. Der schmelzende Schnee scheint sie zu malen. Es gibt auch Schneeglöckchen. Es taut. Über die Dächer laufen Rinnsale von Schmelzwasser, das manchmal nicht auf den Boden tropft, weil es auf dem Weg über die Dachschräge schon verdunstet. Die Sonne ist sehr stark. Aber ich hoffe noch einmal auf Schnee.
22. März
Heute Morgen fünf Grad plus. Die Straßenreinigungsmaschinen fahren durchs Dorf. Der Splitt soll vor Ostern weg sein. Der Pistenbericht gibt 1 Grad minus für die Skistation Motta Naluns an. Das ist zu warm.
Der Schnee schmilzt von den Dächern. Auf dem Dorfplatz sitzen der Mann vom Volg-Laden und der Mann vom Sportgeschäft in der Sonne. Vereinzelte Skifahrer in Montur sind unterwegs. Ich will noch nicht, daß der Frühling kommt. Ich habe Angst vor seiner Geschwindigkeit. Schnee ist die ruhigste Jahreszeit. Ich will sie noch eine Weile, diese besänftigende Decke, den verläßlichen flachen Glanz, die blaue Tiefe Blau über dem weißen Weiß.
23. März
Klavierspielen bei Ida. Sie erzählt: Ein Hirsch ist im Garten gewesen. Er hat vom Hagebuttenstrauch gefressen. - Wo? frage ich. - Gleich da, sagt sie, am Fenster. Wir haben uns in die Augen gesehen, sagt sie, minutenlang. - Das glaube ich nicht, sage ich, so nah! Doch, sagt sie. - Es war ein verzauberter Prinz, sage ich. Vielleicht, sagt sie. Dann sagt sie: Jetzt ist er tot. - Wieso soll er tot sein? frage ich, wie kannst du das wissen? - Er ist bei Not über den Zaun gesprungen, beim Parkin. Er ist hängen geblieben.
Heute nimmt mich Not im Auto von Scuol mit hinauf nach Sent. Ich frage nach dem Hirsch. Schlimme Geschichte, sagt er. Wir fahren am Parkin, seinem steil abfallenden Garten mit seinen Skulpturen am Eingang von Sent, vorbei. Siehst du das Blut, sagt er, und fährt langsamer. Alle Därme hingen heraus, sagt er. Jetzt werde er ausgestopft. Sein Galerist Sperone wolle ihn haben.
Ich frage mich (nicht ihn), warum der Hirsch, der Ida in einer Schneenacht minutenlang in die Augen sieht, dann ausgerechnet bei Not über den Holzzaun des Parkins springen muß, mit seinen spitzen Latten.
Am Abend gehe ich zu Ida. Sie sagt, das seien eben die Hirsche, die Männer. Sie müßten ihr Revier verteidigen, dabei würden sie das Fressen vergessen, sie würden dann schwach. Er hat den Sprung nicht mehr geschafft, aus Schwäche.
24. März
Sonne, Frühling. Uorschla trägt eine blaue Schürze. Ich frage sie, wann man mit dem Garten anfangen kann. Sie sagt, ich solle bis nach Ostern warten. Es komme noch Schnee.
Die Kinder haben die Fahrräder aus dem Keller geholt. Sie laufen in Gruppen durch die Straßen, spielen Diabolo. Draußen ist es jetzt wärmer als in den Häusern.
Gestern ein Auftrag von einem Magazin: mit einer
Photographin soll ich vier, fünf Tage den Donauradweg von Passau bis Wien fahren. Es gibt Lieblingsaufträge. Mein schönster Auftrag war einmal für das Schweizer Magazin
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