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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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kann nur sprechen, wenn ich mir meine Sprache glaube. (Das ist bei einem Präludium von Bach leichter.) Ich kann sagen: Hoz esa fraid. Hoz esa sulagliv. Fraid e sulagliv. Ich kann schreiben: Ingio est tü? Ich kann denken: Uschea cumainza mia lingua sulvadia. Heute ist es kalt. Heute ist es sonnig. Kalt und sonnig. Ich kann schreiben: Wo bist du? Ich kann denken: So beginnt meine wilde Sprache.

13. April
    Fraid e sulagliv. Die Wiesen sind schneefrei. Der Hund wälzt sich im Gras, einem Gemisch aus alten, vom Schnee zerdrückten Winterhalmen und neuem Grün. Im Friedhof wurden kleine Blumen gesetzt. Primeln und Stiefmütterchen, die hier Violas heißen. Die Bäume
unten an der nördlichen Friedhofsmauer sind noch ohne Grün. In einer der tiefen Astgabeln sitzt eine schwarze Katze mit gelben Augen. Auf einer höheren Astgabel sitzt eine schwarze Bergdohle mit gelbem Schnabel. Die Katze funkelt. Die Bergdohle krächzt.
     
    Konzert der Musikschulkinder in Sent. Matthias spielt den rosaroten Panther und begleitet Seraina, Querflöte, bei einem Cowboylied. Auf dem Weg zur Sporthalle geht Uorschla neben mir. Ich habe einen Topf Margeriten gekauft, sage ich, aber die Margeriten lassen die Köpfe hängen, obwohl ich sie gegossen habe. Uorschla sagt, es ist zu früh für Blumen. (Sie hat aber selbst schon welche draußen, Primeln und diese Veilchen eben.) Es ist eine Ungeduld im Dorf nach Blumen.
     
    Am Abend Klavierspielen mit Ida. Stromausfall. Ida reißt das Fenster auf und sagt: schau, das ganze Dorf hat keinen Strom. Wie schön das aussieht. Eine Schneenacht. Das nächtliche Grau unter den Schneebergen ist bunt. Ida kramt eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack. (Wenn sie in der Kirche abends oder nachts Orgel übt, kann es sein, daß Kirchenbesucher das Licht ausmachen, dann braucht sie die Taschenlampe, um die steile Treppe herunterzukommen.) Sie holt zwei Kerzen: Meine Mutter hat immer gesagt, im Engadin muß man eine Kerze im Haus haben, wegen der Stromausfälle. Wir gehen in die Küche. Ida zeigt auf den alten Holzofen hinter der Tür. Die Mutter habe auch darauf
bestanden, daß der Ofen bleibt. Es könne einmal ein längerer Stromausfall sein, im Winter, und dann werde es kalt.
    Sie hat recht, wir haben oft einen Stromausfall. Diesmal kommt das Licht bald zurück.
    Ich spiele Ida ein kleines, einfaches Bachmenuett vor. Ich spüre, daß sie gerührt ist. Ich bin nicht gerührt, ich bin sauer, weil ich es immer noch nicht kann. Das Telephon klingelt. Ida sprudelt Romanisch, geht in den Gang und spricht weiter. Ich übe das Menuett. Anflüge von Idas Sätzen mischen sich mit Bach. Fraglose Minuten.
    Als ich die Noten zusammenpacke, beendet sie das Telephonat. Ein Cousin in Italien stehe vor einer Krebsoperation, sie habe ans Telephon gehen müssen. Ich nicke, hole meinen Anorak. Ich mache Fortschritte im Mikrobereich, sage ich. Du machst Fortschritte, sagt sie, vor einem Jahr hättest du das noch nicht gespielt.
    Die Senter Nacht hat wieder Strom, aber sie ist immer noch dunkel. Erst merke ich es nicht. Dann spüre ich Schneeflocken im kalten Wind. Und dann geht es sehr schnell. Schneetreiben, dichtes Schneetreiben. Ich laufe. Es schneit wie mitten im Winter, ich drücke die Noten gegen den Anorak und laufe. Zu Hause schiebe ich Matthias’ Fahrrad hinein und hole den Wäscheständer von der kleinen Wiese hinterm Haus. Die Kleider sind voll dicker, weißer Fetzen. Gerupfter Winter.

14. April
    Fila lernt Fahrradfahren. Seraina hat eine Leine mit Karabiner an der Lenkstange festgebunden und zieht ihn zur Schule hoch. Wenn es nicht steil ist, kann er es schon. Uorschla und ich laufen hinterher. Alle sind stolz auf Fila. (Aber Ski fahren kann er schon lange.)
     
    Heute morgen alles weiß, jetzt nur noch Nässe. Das Reziadach ist schon wieder trocken.
    Furchtbare Klavierstunde. Ich bin schlecht. Oscar spielt ein paar Takte Chopin, irre hingehauchte Läufe. Ich starre auf die Noten wie in den tiefstmöglichen Abgrund.

17. April
    Heute eine Wende.
    Leta, die Lehrerin, zeigt mir ein dickes, leeres Heft. Ich verstehe nur so viel: die Vereinigung der Romanischen Schriftsteller (Uniun litteratura rumantscha) feiert das 30 jährige Bestehen ihrer Zeitschrift »Litteratura« mit einer Art Null-Nummer, einer Ausgabe, in der noch nichts steht. Jeder, der möchte, kann in sein Exemplar hineinschreiben, -malen, -kleben. Mitte August soll man die Hefte an das Sekretariat zurückschicken. Bei den jährlichen Tagen der Romanischen

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