Alle Farben des Schnees
aus. Sie läuft ein wenig unsicher, als sei sie müde von einer zu anstrengenden Arbeit. Ich versuche, während sie leicht schwankend auf mich zugeht, einen Blickkontakt herzustellen, aber sie sieht leer an mir vorbei. Ich war kurz davor, sie anzusprechen.
Als ich fast an meiner Zimmertür bin, kommen mir aus der Tiefe des Flurs zwei Männer entgegen. Sie verweilen im Gang, trödeln langsam weiter, als warteten sie auf etwas. Wenig später sehe ich durch die Fenstergardinen meines Zimmers die beiden Männer auf dem Parkplatz des Hotels mit einem weiteren Mann davonschlendern. Sie waren also zu dritt.
28. April
Erlangen. Das Deutsche Seminar der Universität hat mich zu einem Poetenkolleg mit Studenten eingeladen. Über »Nahe Tage« kommen wir auf den Begriff Heimat. Ein Junge sagt entschieden, er lehne für sich persönlich den Begriff ab. Er habe für ihn höchstens eine historische Funktion. Er könne überall leben. Ein Mädchen beginnt von ihrer Mutter zu erzählen. Auf einmal
hat sie Tränen in den Augen. Es ist seltsam, wie schnell manchmal etwas aufbricht.
(Ich denke an Karl Jaspers’ psychiatrische Dissertation »Heimweh und Verbrechen«, in der er von jungen Mädchen erzählt, die, als Bedienstete in die Fremde geschickt, dort zu Brandstifterinnen und Kindsmörderinnen wurden, in der irren Hoffnung, dadurch wieder nach Hause zu kommen.)
Erlanger Einkaufspassage. Vor der Lesung am Abend möchte ich mir ein neues schwarzes T-Shirt kaufen. Aber ich schaffe es nicht, mich in den überschallten Boutiquen zu konzentrieren. Dabei ist die Erlanger Einkaufspassage sicher harmlos.
Auf einmal das Gefühl, an einer Reinheitsbehinderung zu leiden. An einem Stand gibt es in Plastikbechern geschnittene Früchte. Melone, Ananas. Ich möchte Ananas essen, aber ich kann sie nicht kaufen.
Eine Rolltreppe führt in das Untergeschoß der Einkaufspassage, in der sich das Areal einer Verkaufskette für Computer und Elektroartikel befindet. Ich brauche eine Maus für den PC. Ich habe es geschafft, eine Maus zu kaufen, aber es war nicht einfach. Ich stehe vor einem ganz langen Regal mit Mäusen und soll eine aussuchen. Es ist eine Zumutung, sich mit so vielen ähnlichen Gegenständen beschäftigen zu müssen, um den einen funktionalen zu bekommen, den man braucht.
Ich habe dann für fünf Euro (nein, diese Albernheit: für 4.99 Euro) eine Maus aus einem großen, viereckigen Behälter genommen, wo es nur zwei Arten von Mäusen gab. Ein Sonderangebot. Die Maus ist aber gut.
In Erlangen habe ich einige junge Wissenschaftlerinnen kennengelernt. Mütter, sie pendeln alle. Es ist ganz normal, drei Tage nicht bei den Kindern zu sein oder täglich 3 Stunden Auto zu fahren. Dann bei getrennten Beziehungen: der Vater des gemeinsamen Kindes lebt in Hof, der neue Freund in Wolfsburg, die Mutter selbst arbeitet in Erlangen; die Wohnung von Mutter und Kind liegt in Bamberg. Jetzt will die Mutter mit dem Kind und dem neuen Freund (der in Wolfsburg arbeitet) eine gemeinsame Wohnung in München nehmen. Ich frage, warum München? Sie sagt, München sei immerhin eine Stadt. Später erzählt sie, ihr Freund wolle nicht mehr arbeiten, er denke daran, etwas ganz anderes zu machen. Bergführer zum Beispiel.
Mit dem Zug ankommen im Tal: das Grau der Felsen, unten schäumt grün der Inn. Die Schneeberge, graues Grün der tieferen Felswände, grünes Grün auf den Wiesen.
Mit dem Hund losgegangen. Geatmet.
Zu Hause schlage ich noch einmal Jaspers auf. Er referiert den Ursprung des Wortes »Heimweh«. Es ist erstmals belegt in Scheuchzers »Naturgeschichte des
Schweizerlandes« (1706), später hat der Autor darüber noch einmal auf lateinisch gehandelt: »Dissertatio de Nostalgia Helvetorum« (1731). Scheuchzers wundersame medizinische Begründung dieser »Schweizerkrankheit« faßt Jaspers zusammen: »Die eigentliche Ursache des Heimwehs ist nach ihm die Änderung des Luftdrucks. Die Schweizer leben in den Bergen in feiner leichter Luft. Ihre Speisen und Getränke bringen auch in den Körper diese feine Luft hinein. Kommen sie nun in das Flachland, so werden die feinen Hautfäserchen zusammengedrückt, das Blut wird gegen Herz und Hirn getrieben, sein Umlauf verlangsamt und, wenn die Widerstandskraft des Menschen den Schaden nicht überwindet, Angst und Heimweh hervorgerufen. Daß besonders junge Leute mit feiner Haut und solche, die mit Milch genährt sind, erkranken, dient ihm als Stütze seiner Ansicht. Zur Behandlung
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