Alle Farben des Schnees
Form, wie ein schlafendes Tier. Ein Wintertier mit Schneepelz.
1. April
Der Schnee vom Reziadach ist zu zwei Stücken zerschmolzen: eines ist zur Regenrinne abgerutscht, es scheint Flügel auszuspreizen wie ein vornübergekippter
Schwan, ein anderes, etwas höher hinter dem kleinen Kamin, ist nur noch Fleck, Schneeinsel auf dem feuchten, eingedunkelten Kupferdach. Spuren von Rinnsalen über der Schräge.
Doch auf einmal beginnt es zu schneien. Der Himmel wird weiß; schon sind die Berge verschwunden.
Doris kommt heute. Wir haben uns seit 30 Jahren nicht gesehen. Sie hat Bücher von mir gelesen, mich im Internet gesucht. Wir haben zwei, drei Semester im selben Studentenwohnheim gewohnt und waren eine kurze Zeit eng befreundet. Mittlerweile ist sie Professorin in Rhode Island und Direktorin der Sommerakademie des Middlebury College in Vermont. Sie schrieb eine Mail, wir telephonierten. Sie lud Manfred und mich ein, an der Sommerakademie in Middlebury zu unterrichten. Jetzt werden wir also zum ersten Mal nach Amerika fahren. Manfred soll zwei Seminare übernehmen; er schlägt ein Kleistseminar vor und eines über Liebeslyrik. Ich werde ein Schreibseminar geben. Seltsame Lebenslinien.
Nachts starker Vollmond. Ein Sog. Eine Unruhe. Ich stehe auf und sehe den riesigen, weißen Mond an. Das Atmen des Hundes. Der Hund ist nachts oft laut, aber ich schlafe lieber mit ihm als allein. Der Hund träumt; er scharrt mit den Pfoten.
Manfred kommt mit dem Hund zurück und erzählt eine Familienidylle auf dem Weg zum Skibus: Eine halbwüchsige
Tochter, demonstrativ schlecht gelaunt, eine Mutter, die ruft: mit 14 Jahren kannst du deine Ski doch selber tragen. Ein Vater, der vorausgelaufen ist und nun zurückkommt und der Tochter die Skier abnimmt. Eine Mutter, die keift: Dann trägst du wenigstens die Stöcke.
Es schneit, es ist wattig. Heute möchte man wirklich nicht Ski laufen. Vermutlich müssen die Skipässe abgefahren werden. Damit sich die Ausgabe gelohnt hat.
2. April
Nach leichtem Schneefall am Morgen, gegen Mittag und Nachmittag zunehmend mehr Schnee. Gestreiftes Schneelicht. Als Doris und ihre Schwester Manu gegen 15 Uhr ankommen, liegen fast 30 cm Neuschnee und es schneit weiter. Kein Berg zu sehen, nur Schnee. Wir umarmen uns im Schneetreiben.
Doris und ich sind uns sofort vertraut, als hätten wir uns drei Tage nicht gesehen und nicht 30 Jahre. Ich sage: du und ich, wir haben uns nicht gestritten, wir haben uns verloren. Wie ging es auseinander? Sie sagt: nein, wir haben uns nicht gestritten, aber die Männer, mit den Männern ging es dann auseinander. Manu sagt: hattet ihr dieselben? Wir lachen. Nein, das war es auch nicht. Einmal erzähle ich dir, wie es war, sagt Doris. Ich habe das Gefühl, sie weiß mehr über mein Leben als ich.
Heute morgen dann blauer Himmel, alle Berge sind
da. Einwandfrei. (Und ich bin so stolz, daß ich Doris meine Berge zeigen kann.) Doris schaut hinaus. Sie ist still. Dann sagt sie: seht ihr das noch?
(Ja, wir sehen es noch, wir sehen es so neu, wie es täglich neu ist. Weil die Berge ihr Gesicht ändern. Weil sie immer anders da sind. Diese alten Steine.)
Fürs Frühstück stelle ich keinen Speck, keine Wurst auf den Tisch. Manfred findet das übertrieben. Doris sagt: ich bin nicht religiös. Ich sage, ich tue es nicht aus religiösen Gründen. Es ist eher ein Ritual. Matthias will ein Salamibrot. Ich sage: Am Karfreitag mache ich kein Salamibrot. Mach es dir selber. Er nimmt die Salami und säbelt. Tatsächlich schneidet er sich in den Finger. Ich klebe ihm ein Pflaster auf den Daumen. Er nimmt das Salamibrot und geht in sein Zimmer. Dann sehe ich, wie er wieder hochkommt und dem Hund die Salami in den Freßnapf gibt. Er sagt: die Salami schmeckt nicht. Später denke ich, es ist eine Art von Höflichkeit. Anerkennung eines christlichen Feiertags, in einem christlichen Kulturraum. (Am Nachmittag sehen wir, daß in Scuol die Geschäfte offen sind.)
Hundegang mit Doris und Manu. Manu sagt: hier ist ein Hirsch gelaufen oder ein Reh. Sie zeigt mir den Abdruck von Paarhufen im Schnee, die frisch aufgewühlte Erde an der Wiesenschräge neben dem Weg. Sie lebt im Schwarzwald, ihre Eltern hatten Landwirtschaft. Sie hat mit 47 Jahren den Motorradführerschein gemacht. Sie
sagt: Mein Sohn kam aus dem Internat, und ich dachte, ich müsse etwas für mich haben, damit ich ihn nicht dauernd bemuttere. Der Sohn macht jetzt eine Lehre als Schreiner, wenn er am Wochenende
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