Alle Farben des Schnees
Taslaina-Hof. Die Sonne läßt seine Holzwände glühen. Wir fahren vorbei an der Sömmi-Bar, einer bewirteten Hütte. Nun beginnen die Wege und Pisten durch den Wald. Als wir die weißen Wiesen von Sent erreichen, ist es sehr warm. Es riecht nach Erde.
Auf dem Dorfplatz sitzen junge Touristinnen in ärmellosen T-Shirts. Sie haben ihre Köpfe in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Nur im Schatten der dicken Häuser noch letzte Schneehügel. Hinter einem Stall liegen Schafe in der Sonne.
Abends. Seit Wochen haben die Schüler der 3. und 4. Klasse für das Singspiel »Traideschin« geübt. Der Engadiner Komponist und Musikpädagoge Peter Appenzeller hat das romanische Märchen vom Jungen, der »Dreizehn« genannt wird, weil den Eltern für ihr dreizehntes Kind kein Name mehr einfällt, vertont. Der kleine, mutige Traideschin wird viele Abenteuer bestehen und am Ende die Königstochter heiraten. »Traideschin« ist Teil eines Projekts mehrerer Musikschulen und Schulen. Nina, unsere Chorleiterin, kam als Gesangslehrerin der Musikschule Scuol regelmäßig in die Klasse nach Sent, wo sie den Lehrer im Musikunterricht unterstützte. Jetzt stehen die Kinder auf der Bühne. Sie singen romanisch, zum Teil doppelchörig. Die Turnhalle ist voll. Es gibt (mit wechselnden Klassen) drei Aufführungen im Unterengadin (in Ramosch, Scuol, Zernez). Von den rund 90 Schulkindern in Sent besuchen 50 Kinder Kurse an der Musikschule.
Samstag, 10. April
Das letztemal auf der Piste. Kristalline Muster von Spuren der Skier oder Snowboards. Kleine gefrorene Formationen von Geschmolzenem. Gläserne Strukturen. Leichter Wind, ziehende Schleier zwischen den Gipfeln. Es ist ein wenig diesig, aber transparent. Wir fahren alle Lieblingspisten noch einmal, und die anderen auch. Die Sentabfahrt ist geschlossen. Wir nehmen die Gondel hinunter nach Scuol. Siebeneinhalb Minuten. Pro Stunde, sagt ein Schild, können 2800 Personen befördert werden. Heute in der Früh waren wir fast allein. Aber als wir jetzt zum Bus gehen, kommen immer noch Skifahrer. Auf Champatsch und den nördlichen Hängen kann man sicher noch bis zum späten Nachmittag fahren. Die letzten Anlagen schließen um 16.30 Uhr. Am Sonntag gehört das Skigebiet allein den Bediensteten. Sie fahren Slalom, essen gemeinsam zu Mittag. Mitte Dezember wird die nächste Wintersaison beginnen.
11. April
Die ersten Töpfe mit Blumen stehen vor den Türen, die Gartenarbeiten beginnen. Es ist warm. Uorschla hat meine Kästen mit Engadiner Hängenelken aus ihrem Keller ins Licht an die Glasscheibe bei ihren Hasenställen gebracht. Sie durften bei ihr überwintern; im Unterschied zu meinem Keller hat ihr Keller ein Fenster. Ich
soll sie aber noch eine Weile bei den Hasen stehen lassen. Es schneit nicht mehr, sage ich, der Frühling ist da!
Aber sicher schneit es noch, sagt sie.
12. April
7.30 Uhr, alles ist weiß! Das Reziadach, die Wiese, die Straße. Gegen 10 Uhr ist der Schnee wieder ganz verschwunden. Der Winter geht, indem er immer wieder zurückkommt.
Eine Freundin und ihre drei Kinder sind abgefahren, aber Livio hat hier übernachtet. Ich denke an unsere Wohnung in Tübingen, den Stiefelhof, mitten in der Altstadt, die urkundlich ältesterwähnte Adresse der Stadt. Wir kochten immer große Portionen. Und da viele der Freunde unserer Kinder auf dem Land wohnten und die Busverbindungen nachts schlecht waren, schliefen bei uns oft Kinder, Jugendliche. Ich wußte nie so genau, wer mir morgens im Bad begegnete, wer zum Kaffee blieb oder wen ich nicht sah, obwohl er da gewesen war. Im Unterschied zu unserem Bauernhaus in Sent war die Wohnung im Tübinger Stiefelhof klein. Und doch gab es immer Schlafplätze. Wohnungen, Häuser können sich dehnen, wenn man gerne in ihnen wohnt.
Tübinger Freunde haben uns das neue Tübingen-Monopoly mitgebracht. Der Stiefelhof kommt auf dem Spielplan auch vor; es ist die billigste Straße.
Was ich vermisse? Den Tübinger Wochenmarkt. Manchmal. Das Tübinger Schwimmbad. Öfter. Ein Tübinger Freibadsommer begann im Mai und ging bis in den September. Ich bin in diesen Monaten 50 Kilometer geschwommen und mehr. Das Freibad in Scuol ist nur für wenige Wochen geöffnet und die Bahnen sind kurz. Ich war noch nicht dort. Aber Matthias findet es gut.
Heute am Telephon drei Sätze romanisch gesprochen, auch letzten Donnerstag nach dem Chor. Ganz, ganz langsam geht es. Es geht so langsam wie das Klavierlernen. Vielleicht noch langsamer. Ich
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