Alle Farben des Schnees
Basel fliegt er weiter zur Hölderlin-Jahrestagung nach Berlin. Auch Silvia fährt morgen nach Berlin, mit dem Zug; sie hat
noch nicht gepackt. Aber da ich nicht Auto fahre, habe ich Manfred gebeten, mich nach Lavin zu bringen, um schnell ein paar Setzlinge zu kaufen und einige Blumen. In Lavin aber kauft man nicht schnell etwas, das langsam gewachsen ist. Eine Gärtnerei wie eine Parkanlage. Gewächshäuser und Beete sind eingelassen in einen Rasen mit kleinen Blumeninseln von Löwenzahn, Gänseblümchen. Hier möchte man Bilderbücher malen. Freundinnen, Paare, einzelne Männer und Frauen flanieren, sitzen auf Stufen, Rändern. Der Inn rauscht. Man schaut gegen die ansteigenden alten Häuser von Lavin auf die gemauerten Gärten. Gärtner und Gärtnerin bedienen einzeln. Kein Kunde faßt Setzlinge oder Töpfe selber an. Man wartet. Wer dran ist, wird sorgfältig beraten. Wir stehen eine gute Stunde. Es ist schön, aber wir haben die Zeit nicht. Oder wir haben das Gefühl, die Zeit nicht zu haben. Wir verharren in einer Blumenwelt. Wir sind nervös. Und es ist schön. Wir haben nicht die Nerven für dieses Paradies. Aber wir scheinen die Einzigen zu sein, die unruhig werden. Die Gärtnerin, auch Keramikerin, und der Gärtner, ein Bildhauer und Maler, bleiben sehr langsam. Aufmerksam langsam. Ich glaube, sie werden immer langsamer. Eine weiße, halbzahme Taube trippelt mit fedrigen Füßen über das gepflegte Grün. Silvia sitzt auf dem Rasen und fixiert die Taube wie ein zu lösendes Rätsel. Die Taube fliegt auf den Dachfirst des Gewächshauses. Manfred hält die Szene nicht aus, geht raus und parkiert das Auto um. Das Warten ist ein gesellschaftlicher Anlaß,
vielleicht wie früher die Begegnung am Brunnen. Man ist gerne beieinander, unterhält sich. Auch Helen spricht freundlich nach links, nach rechts. Romanische Nähe. Natürlich sind heute auch viele Menschen gekommen, weil es so spät so schnell schön wurde.
In Sent haben jetzt alle Häuser Blumen. Ansammlungen von Töpfen an den Fenstern und Türen. Als könnten die geschmückten Häuser den Sommer überreden.
Ich kaufe Lobelien in Hell- und Dunkelblau, eine Clematis, Rosmarin, einen Peperonistock, eine Wicke, zwei Töpfe glatte Petersilie und verschiedene Salate und Mangoldsetzlinge.
Auf dem Heimweg sieht Helen zu den Bergen und sagt: wie viel Schnee es noch hat, Ende Mai! Die weißen Zungen kommen weit über die Baumgrenze herunter, bis auf 1700, 1600 Meter. In schattigen Schluchten auch tiefer.
Hundegang. Silvia pflückt blühenden Oregano, zum Trocknen. Dann gräbt sie kleine Oreganoteppichstücke aus. Vielleicht wachsen sie an. Aus den Wiesen steigen jetzt die blauen Blüten auf im Gewoge von Grün. Kräftiger wilder Salbei, Vipernkopf, Wicken, Glockenblumen, Wegwarte, vereinzelt Vergißmeinnicht. Wind, es riecht nach Regen. Die Margeriten öffnen sich.
Silvia möchte noch Pfefferminze aus dem Garten mitnehmen. Es beginnt zu nieseln. Wir sehen grüne Spitzen dort, wo wir Reihen gesät haben.
Donnerstag, 27. Mai
Die Lia Rumantscha und das Piz-Magazin realisieren von Mitte Mai bis Anfang Juni Romanische Filmtage in Ramosch und Vnà.
Gestern wurden in der Kirche von Vnà Filme von Mic Feuerstein gezeigt. Er entstammt der Fotographen- und Filmemacherdynastie Feuerstein in Scuol, die die Natur des Engadins, des Schweizer Nationalparks und das Leben im Tal festgehalten haben. Schon Großvater Jon Feuerstein (1871-1946) trug den Titel Meisterphotograph, sein Sohn Domenic Feuerstein (1900-1949) war einer der ersten, die im Engadin gefilmt haben. Mit seinem Freund Luis Trenker drehte er regelmäßig im S-charl-Tal. Während sein Sohn Jon Feuerstein jr. (1925-2010) sich wieder der Photographie zuwandte, wurde sein jüngerer Sohn Mic (1928-2004) Kameramann. Über 30 Jahre drehte er für das Schweizer Fernsehen. Sein Spitzname war Geröllhalden-Fellini. Mit seiner schweren Kamera hing er unter Adlernestern, filmte bei ausgehängter Tür aus einem Helikopter. Seine Tieraufnahmen gelten als spektakulär, viele gingen in Disney-Produktionen ein.
Die Kirche ist voll wie an Weihnachten, sagt Urezza Famos bei der Begrüßung. Die Herausgeberin des Piz-Magazins spricht romanisch; die Romanen sind gekommen. Auch Clà Riatsch, wie Urezza gebürtig in Ramosch, nun Romanischprofessor in Zürich. Sie kennen sich alle und sie kennen alle, die in den Filmen
vorkommen und die jetzt zum Teil im Kirchenschiff sitzen. Auch die Kinder von Mic Feuerstein, die seinen
Weitere Kostenlose Bücher