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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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erschreckend nah und unverständlich. Sich bergen wollen in diesem unwirtlichen, unsinnig leuchtenden Gestein? Nein, sich nicht bergen wollen. Aber ernst genommen sein.
    Anders als von Hochhäusern.
     
    Am Nachmittag. Ich stehe unten in Scuol an der Bushaltestelle, die den Namen des Bergflüßchens trägt, der hier den Ort durchfließt: Clozza. Ein Auto hält. Es ist Ruedi, mein Romanischmitschüler, er nimmt mich mit hinauf nach Sent. Er hat Wasser geholt von der Mineralquelle Lischana. Er setzt mich am Dorfplatz ab und schenkt mir eine Flasche. Mit viel Magnesium, sagt er. Am Glas der Flasche sind rote Ablagerungen. Gebrauchsspuren, sagt Ruedi.

    Zu Hause klappe ich den Bügel der Glasflasche hoch. Es zischt kaum hörbar. Beim Einschenken sprudelt das Wasser leise, es hat einen natürlichen hohen Kohlensäuregehalt. Es ist kalt und schmeckt frisch. Ich trinke zwei Gläser nacheinander, grad so, als hätte ich Durst.
     
    (Es gibt Menschen, die geben einem Freiheit. Und andere verführen in die Enge. Vermutlich muß man gerade beim Altwerden achtgeben und auf die Freiheit setzen.)

30. Mai
    Ich lese von Elisabeth Fendl einen Text über das Gepäck der Heimatvertriebenen: »Mitgenommen«. Im Lateinischen heiße das Wort für Gepäck »impedimentum«, zunächst »Hindernis«. Und aus dem Grimmschen Wörterbuch zitiert sie: dem »feindlichen Heer ins Gepäck fallen« oder »es an seiner empfindlichsten Stelle hinterrücks angreifen«. Gepäck und Verletzbarkeit.
    Ich habe Elisabeth Fendl einmal auf einem Kongreß am Bodensee kennengelernt, der sich mit der Integration der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg beschäftigte. Sie hat damals darüber gesprochen, daß Vertriebene am neuen Ort begonnen haben, fremde Gräber zu pflegen. Ihr Heimatgefühl in der Fremde sei mit den ersten eigenen Gräbern gewachsen. Ich war damals sehr erstaunt. Ich hatte in meinem Roman »Nahe Tage« eine (mir selbst merkwürdig) lange Beschreibung
darüber, wie die Mutter der Heldin das Grab ihres Vaters, des Großvaters des Kindes, pflegt. Auf einmal schien ich durch ein fremdes Referat ein Stück meines eigenen Textes besser zu verstehen. Jetzt lese ich, daß Elisabeth Fendl über die Mohnmühle schreibt, die die Heimatvertriebenen mitnahmen, und daß sie an ihren neuen Wohnorten Mohn anbauten für die Süßspeisen, die sie herstellten. Ich kenne sie: Mohnstrudel, Hefeknödel mit Mohn gefüllt, Kartoffelknödel mit Mohn und Zucker bestreut, Mohnkuchen. Auch in meiner Familie gab es eine Mohnmühle aus dem Sudetenland. Sie war klein. Sie hatte einen eisernen Fuß, den man an den Küchentisch anschrauben konnte und eine hölzerne Handkurbel. Der Mohn kam oben in ein kupfernes Rund. Ich habe nie mit ihr Mohn gemahlen, nie über sie nachgedacht, aber ich habe diese kleine Mohnmühle, da meine Mutter sie nicht mehr brauchte (sie hatte bald eine moderne Maschine), schon als Studentin nach Tübingen mitgenommen, und dann war sie bei all meinen Umzügen dabei gewesen. Sie war auch in Griechenland. Aber sie kam nicht mehr mit nach Sent.
     
    Für den Umzug hatten wir einen Mercedes Sprinter, Laderaum 4,30 m, gemietet. Manfred würde ihn fahren. Die studentische Arbeitsvermittlung schickte uns zwei Informatikstudenten, die uns helfen sollten, schmale, auf Turnschuhen federnde, leicht dunkelhäutige junge Männer. Sie stellten sich vor als Vettern aus der Mongolei. Sie schienen vergnügt. In Sent waren beide Wohnungen
bereits als Ferienwohnungen eingerichtet. Wir wollten nichts mitnehmen, was wir nicht brauchten. 40 Kisten Bücher also, Bücherregale. Noch einen Tisch, Stühle. Matthias packte seine Autos, sein Lego zusammen. Mit einer Entrümpelungsfirma hatten wir ausgemacht, daß sie die guten, noch brauchbaren Dinge (die Waschmaschine, den Kühlschrank etwa), die wir zurückließen, umsonst nehmen und das Unbrauchbare dafür umsonst entsorgen würden. Natürlich war das Auto trotzdem zu klein. Die mongolischen Vettern lächelten. Sie hatten einige Semester in Ulan Bator studiert, doch sie kamen aus der Steppe, ihre Eltern und Großeltern lebten als Nomaden. Sie verschwanden hinunter in den Hof; dort gingen sie um unser Leihauto herum. Sie kamen wieder hoch und fragten, was mitkommen solle. Ich sagte, vielleicht zuerst die Regale? Sie schüttelten den Kopf und begannen den Tisch zu zerlegen. Sie arbeiteten stumm und zügig, Hand in Hand. Sie brauchten keinerlei Verpackungsmaterial. Sie wickelten den Spiegel in die Federbetten. Die Vasen in die

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