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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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müßten wir den Umweg über den Julierpaß machen oder in Chur übernachten.
    Ich fahre nicht Auto. Abendveranstaltungen in Zürich sind für mich immer mit einer Übernachtung verbunden. Die letzte Zugverbindung von Zürich nach Scuol ist um 20.37 Uhr (mit Umsteigen in Landquart, Klosters, Sagliains). Ankunft in Scuol 23.19 Uhr. Mit dem Sammeltaxi dann ungefähr zwanzig Minuten später in Sent.
     
    Der Himmel ist geschlossen grau. Die Dächer naß, die Berggipfel im Nebel, die Hänge weiß durchzogen von einer dunklen Schraffur der Bäume.
    Für einen Moment taucht von Osten die Sonne durch den Nebel. Ein blauer Wink der Wärme und schon wieder vorbei.

Samstag, 22. Mai
    Heute zum ersten Mal wieder Licht, Schneeberge im Blau. Silvia ist gekommen; wir haben im Garten gearbeitet. Die Beete sind jetzt vorbereitet, morgen wird
eingesät. Die Sommer sind kurz und heftig. Alles geht sehr schnell. Die Tulpen blühen noch. Ich habe frische Minze geerntet und noch einen Lauchstengel vom letzten Jahr, der in der kalten Erde überwintert hat. Erdbeerpflanzen blühen. Der Pflaumenbaum blüht.
     
    Der Flüelapaß war offen. Klare Nacht, zunehmender Mond. Mit jeder Serpentine wurden die Schneefelder dichter. Oben dann alles weiß. Das Empfinden von Höhe.
    Einmal, es war schon hoher Sommer, holten wir Silvia von einem Bewerbungsgespräch in Zürich ab. Auf dem Hinweg keinerlei Gedanken an Schnee. Auf dem Rückweg kamen wir, schon auf der Höhe von Davos, am Beginn des Passes, in einen Schneesturm. Es war dunkel und im Licht der Scheinwerfer wuchs der Schnee, türmten sich Schneeverwehungen. Kein Auto kam uns entgegen. Der Paß wurde nicht geräumt. Manfred sagte, es sei trotz der Sommerreifen kein Problem. Manfred ist vermutlich der beste Autofahrer, den ich kenne. Aber ich hatte Todesangst, die, wie ich heute denke, vielleicht einfach Angst um das Mädchen war. In der Heftigkeit dieser Berge sind alle Schrecken nah.
     
    Die gelben Wiesen beginnen, blau zu werden. Ich sehe den Vertreter der Lia Rumantscha (der Dachorganisation aller Romanischen Kulturvereinigungen), die auch Sprachkurse organisiert, zwischen den Blumen umgraben. Ich frage, was er da macht. Er sagt: Kartoffeln
setzen. Das sei jetzt die Zeit. Ich sage, endlich ist es schönes Wetter. Er sagt, wer weiß, wie lange.
    Jetzt, wo der Schnee fort ist, sieht man die alte, durch verwachsene Böschungen und Lesesteinwälle linierte Terrassierung der Senter Hangwiesen deutlich. Laut Vogelwarte Sempach liegt hier, im Osten von Sent, das Gebiet mit der höchsten Heckendichte der ganzen Schweiz, ein besonderer Lebensraum für Insekten, Kleinsäuger und Vögel.
     
    Gestern haben wir eingesät. Bald wird man die grünen Spitzen sehen: Radieschen, Rucola, Schnittsalat, Spinat, Koriander.

Pfingstmontag, 24. Mai
    Kleines spätes Lichtprotokoll:
    20.42 Uhr, Schwalben in der Luft wie geworfene und fallende Bälle. Konfetti des Tschilpens. Es ist warm, der Himmel stahlblau, auf dem S-chalambert gegen Osten liegt ein helles, rosa Schneelicht, der Piz Uina dahinter schimmert dunkler. Leichte, bläuliche Schatten, im Übergang ein Effekt von Flieder. Die Hänge sind von einem violetten Grau, das in das Schneegerippe der Bäume übergeht. Auch der Piz Pisoc gegen Westen zeigt noch eine rosa Spitze. Kirchturmglocken, dreimal, sehr pünktlich.
    20.45 Uhr, der Piz Uina jetzt wie kostbarster Chiffon
in Rosa, Blau, Mauve. Der S-chalambert in rotem Schnee. Ein dreiviertel Mond über dem Piz Ajüz.
    Dann weiches Grau, wie Fell, wie Haut. Die Berge sind unsere Kühe am Abend. Mit ihren Graten, Rücken, samtigen Flanken. Noch ein letztes Rot hinter dem Piz Ajüz. Dann gehen die Farben sanft zurück. Und kommen wieder in einer blauen Palette von Grau.
    Der Mond hoch oben hat ein stummes Munch-Gesicht.

26. Mai
    Fahrt in die Gärtnerei nach Lavin. Manfred am Steuer. Auch Helen ist mitgekommen und sitzt hinten neben Silvia. Es könnte regnen, aber wir wollen Pflanzen setzen, jetzt, wo es endlich ein wenig warm geworden ist. Auf dem Weg sehen wir Kühe. Ich sage: was für schöne Tiere Kühe doch sind. Helen sagt: Ich mag sie nicht ohne Hörner. Ich finde, sie sehen blöde aus. Und dann denke ich mir, daß Menschen ihnen das angetan haben und dann schäme ich mich, zu dieser Gattung zu gehören.
    Es war mir gar nicht aufgefallen, daß die Kühe keine Hörner hatten. Manfred sagt nichts, er ist nervös. Er hat nicht genug geschrieben und das Basel-Seminar noch nicht richtig vorbereitet, und von

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