Alle Farben des Schnees
Nachlaß verwalten und ein Archiv planen, auch seine zweite Frau. Seine erste Frau ist meine Tante, sagt Leta, die Lyrikerin, rechts von mir in der Kirchenbank. Links sitzt Angelica Biert, Schauspielerin und Witwe des romanischen Schriftstellers Cla Biert, der mit Mic Feuerstein befreundet war. Beide waren auch mit dem Schriftsteller Jon Semadeni befreundet, der der Vater von Leta ist. Kreisschlüsse. Keine Chance hier hineinzukommen. Aber sie lassen einen teilhaben. Myzelien.
Wir sehen den Film »Der Inn erzählt« (»L’En raquinta«, 1969, schwarz-weiß), eine Hommage an den Fluß, kurz bevor sein Wasser für die Elektrizitätsgewinnung gefaßt wurde. Den Film über zärtlich spielende, den Hang hinunterkullernde Murmeltiere, Szenen mit kämpfenden Hirschen. So nah, so unmittelbar wie auf der Leinwand habe ich diese Tiere nie gesehen. Es gibt ein Portrait eines Bauern, der im Winter auf der Motta arbeitet (aus den siebziger Jahren), während seine Frau die winterliche Stallarbeit mit den sechs Kindern erledigt. Immer wieder Lachen in den Kirchenbänken, das ich nicht verstehe, mir fehlt der Erlebnis-Echoraum von Jahrzehnten. Die andern reagieren impulsiv auf die Leinwand; es ist ihr Leben. Ich werde nie dazugehören. Dann ein Auflachen, das auch ich begreife: Chasper Pult, ein wichtiger romanischer Kulturvermittler, Sohn und Enkel zweier engagierter Romanen (sein Großvater hat über die Sprache von Sent promoviert »Le Parler de
Sent«, 1887), erscheint auf der Leinwand als ganz junger Mann mit finsterem Bart. Schon damals also sprach er mit der ungebrochenen Verve, die ihn noch heute unverwechselbar macht.
Leta, die Lyrikerin, sagt: ich sehe hier Leute, die habe ich seit dreißig Jahren nicht gesehen. Und wie alt die jetzt alle sind!
Angelica Biert erzählt, Mic Feuerstein habe sich mit einer Salbe eingerieben, die nach Tier roch, damit die wilden Hirsche ihn näher an sich heranließen beim Photographieren. (Funktion von Parfüm? Wollen wir gleich oder anders riechen? Jedenfalls wollen wir nicht nach uns riechen. Eine Kuh riecht nach sich. Milde Idee von Identität.)
Autofahrt mit Angelica Biert. Ich erfahre, sie ist die Schwester von Beatrice Pult, der Pianistin, die die Mutter von Chasper Pult ist. Was, sage ich erstaunt. Ja, sagt sie kühl. Und ich ahne unsicheren Boden. (Später erfahre ich, daß die beiden Schwestern, obwohl sie im selben kleinen Dorf wohnen, nicht miteinander sprechen. Keiner weiß genau warum.) Beide wurden von einer romanischen Mutter auf Java geboren, beide sind über ihre Männer nach Sent gekommen. - So ein Zufall, sage ich. - Ich glaube nicht an Zufälle, sagt Angelica Biert. Sie ist wohl über 80 Jahre alt und schön, hell, in einem kamelhaarfarbenen Cape, darunter einen mattgelben
Mohairpullover, Locken. Beide Schwestern fahren noch Auto, Beatrice ihren roten Sportwagen. Angelica einen weißen Golf. Eine Pianistin, eine Schauspielerin. Zwei blonde Blüten aus dem Dschungel von Java, vom Fuß der Vulkane, im Schnee.
28. Mai
Hundegang. Seit Helen das von den Hörnern gesagt hat, schaue ich die Kühe anders an. Aber ich finde sie nicht albern ohne Hörner. Ich finde sie auch ohne Hörner schön. Ihr Rückgrat, ihre Flanken. Ihre graue, braune, schattige, felsig glänzende Haut. Aber wenn sie keine Hörner haben, stelle ich sie mir jetzt mit Hörnern vor. Ich überblende. Immer verändert das Wissen den Blick. Immer verändert das Beschreiben den Blick. Wir sehen mit den Wörtern. Später sagt mir Silvia am Telephon: Du hast Helen nicht verstanden. Es ging ihr nicht nur um die Schönheit; es ging ihr auch um den Schmerz.
29. Mai
Berge sind keine Hochhäuser.
Die Plötzlichkeit des Bergsommers. Sonne - und es ist warm. Aber abends die nahe Erinnerung, daß unter einem duftenden, heißen Tag die Kühle von den Bergen wartet.
Es beginnt die Zeit der Senter Juni-Wiesen, der Wiesen vor dem ersten Schnitt. Auf der besonderen geologischen Schichtung des Engadiner Fensters wachsen hier Wiesenblumen wie nirgendwo anders. Die Senter Wiesen gehören für mich zu den plausibelsten Gottesbeweisen.
Religiöse Erfahrungen in der Kindheit kann man nicht nachholen, sagte, als ich noch Schülerin war, der Vater meiner damals besten Freundin. Darüber habe ich als Mutter oft nachgedacht. Der Satz ist sicher richtig; doch ich wollte Gott nie pragmatisch denken, als einen pädagogischen Vorteil.
Die nicht zu überschätzende Bedeutung des Raums. Die Sprache der Berge ist
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