Alle Farben des Schnees
Handtücher. Jedes Ding gehörte zu einem anderen. Jedes paßte in ein anderes hinein und sei es nur in einem Winkel. Und dann begann die Feinarbeit, ein dreidimensionales Puzzle. Sie beluden das Auto nicht, sie füllten es aus. Alles, was wir mitnehmen wollten, hatte Platz gefunden. Am Ende zeigten sie uns eine hölzerne Regalstrebe. Die, und genau die, müßten wir zuerst herausziehen, dann würden sich nach und nach die einzelnen Teile ganz leicht lösen lassen.
Sie hatten um 9 Uhr angefangen. Um 14 Uhr waren sie fertig. Und zusammen Mittag gegessen hatten wir auch noch. Wir bezahlten das Doppelte des ausgemachten Stundenlohns. Dann fuhren sie lachend zu zweit auf Manfreds altem Fahrrad davon.
Meine Mutter war eine Weggegangene. Mit der Notwendigkeit (die auch die Möglichkeit impliziert), ganz woanders hinzugehen, bin ich groß geworden. Als Reporterin habe ich in gewisser Weise die Heimatlosigkeit zum Beruf gemacht. Und Heimat immer augenblickshaft gesucht und erfahren. Daneben die Bedeutung der Familie. Die Gefahr, in den Kindern Heimat zu suchen.
31. Mai
Heute nacht hat es bis zur Baumgrenze heruntergeschneit. Jetzt diffuses Sonnenlicht. Die weißen Berge sind im Nebel verschwunden, aber es schneit in dicken Flocken.
Der Kulturwissenschaftler Albert Ilien hat einmal gesagt: Um zu erfassen, was passiert, wenn sich in einem Dorf zwei alte Männer auf der Gasse grüßen, müßte man einen Roman schreiben.
Damals habe ich in Tübingen aber vor allem bei Hermann Bausinger studiert. Nie offiziell eingeschrieben (bei einem Fachwechsel hätte ich meine staatliche Unterstützung
verloren) war ich eine Spionin unter den Empirischen Kulturwissenschaftlern. Hermann Bausinger kam von der klassischen Volkskunde, und ich wußte, daß er eine Prüfungsbefugnis für Mediaevistik hatte. Kurz vor meinem Germanistik-Staatsexamen, das ich in Literatur und Linguistik ablegen sollte, war es mir auf einmal unmöglich, mich weiter mit Linguistik zu beschäftigen. Mich ärgerte und langweilte, so sah ich es damals, ein Fach, das keine Kriterien hatte, zwischen einem Werbetext und einem Gedicht zu unterscheiden. Also machte ich die prüfungsrelevanten Mediaevistikscheine und suchte mir aus: Nibelungenlied, Heinrich von Morungen, mittelalterliches Passionsspiel. Aber ich hatte das Fach letztlich nicht ordentlich studiert. Das sagte ich Hermann Bausinger und bat ihn, mich zu prüfen. Er hat nur gelacht und zugesagt. Für ihn war es das erste Mediaevistikexamen nach vielen Jahren (und vermutlich sein letztes). Im Raum saß ernst im schwarzen Anzug ein beobachtender Prüfer des Oberschulamtes. Und ich habe gelernt: Eine Prüfung ist wie ein Walzer. Wenn einer von zwei Tänzern sicher führt und der andere sich führen läßt, dann gelingen diese Drehungen von Frage und Antwort. Doch wenn ein Prüfer nicht tanzen will oder pädagogisch unmusikalisch ist?
Hermann Bausingers Sätze liefen in meinem Leben immer wie ein verstärkender Beifaden mit; gerade lese ich in seinen Essays »Fremde Nähe« und finde: »Heimat, richtig verstanden, hat zu tun mit Lebensqualität. Heimat ist ein Kürzel für Orientierungssicherheit, für
konstante und verläßliche Beziehungen und Erfahrungen. In diesem Sinn, als Identitätsinstrument, ist Heimat ein wichtiger Gegenpol zu den diffusen globalen Tendenzen. Dabei ist es nicht nötig, Heimat quasi kartographisch festzulegen und einzugrenzen. Wo ist die Heimat? In der Wohnung - im Haus - der Straße - dem Viertel - der Stadt - der Umgebung - dem Kreis - dem Bundesland - in der weiteren Gegend, die über die Grenze reicht - in der ganzen Republik? Antwort: überall ein bißchen und je nach Situation. Heimatbezüge und auch Heimatgefühle profitieren von der Vielfalt des Heimatlichen.«
2. Juni
Mit dem Hund gehen. Nasse Wiesen. Ein Rot beginnt aufzusteigen. Submarine Höhe. Wir laufen wie auf einem Riff, Wicken, als wogten sie unter Wasser, Fluten der Gräser. Über dem Tal ziehen Nebelschwaden die Bergrücken entlang. Die Gipfel sind weiß.
Später blättere ich im Abonnentenmagazin der Zürcher Oper; es lag diese Tage der Neuen Zürcher Zeitung bei. Auf dickem, geschmeidigem Glanzpapier ganzseitige Portraitcollagen von Sängern, Dirigenten, Tänzern. Ich ertappe mich dabei, wie ich am Papier schnuppere, als müsse es gut riechen. Hauch eines sehr anderen Lebens. Und doch, einige der Gesichter könnte ich mir gut im
Dorf vorstellen. Ich blättere und dann blättere ich zurück.
Ein Satz
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