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Alle Farben des Schnees

Titel: Alle Farben des Schnees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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schönen Fassade stehen, damit sie sieht, daß es mir besser geht.

14. Mai
    Prag, der Regen, der Übersetzer ganz in Schwarz mit einem großen schwarzen Regenschirm. Er hält ihn mir hin und ich zögere. Ich soll wohl den Regenschirm nehmen, aber ich will ihn nicht. Doch da sagt er, ob ich mich denn nicht einhängen möchte. Auf einmal, ganz unerwartet, die schöne altmodische Geste, am Arm eines Mannes durch den Regen gehen, durch Prag gehen. Ich spüre, wie er die Fingerknöchel meiner linken Hand etwas mehr an sich drückt, als nötig wäre. Ein Hauch von einer erschwindelten Berührung, niemals diskutierbar. Wir fahren mit einer Bahn auf den Berg hinauf und laufen Richtung Burg. Nasse Wiesen, blühende Bäume. Die berühmten Bibliothekssäle des Klosters Strahov werden gerade renoviert. Im pastellenen Gang eine kleine Bibliothek. In einer Vitrine stehen graue Bücher. Eine Aufseherin mit geblümtem Kopftuch und Strickjacke winkt uns verschwörerisch zu sich. Sie schließt die gläserne Tür auf und nimmt eines der Bücher heraus. Sie öffnet es. Aber es enthält keine Schrift, keine Worte, sondern in kleinen Holzfächern geordnet: Blätter, Zweige, Rinden, Samen und Früchte von Bäumen.
    Später sitzen wir in einem Café im Souterrain eines Kiosks. Es ist sicher einer der raren Winkel, in denen sich die Prager verstecken. Aber auch hier ist die Getränkekarte englisch.

15. Mai
    Von Prag sind es 50 Flugminuten bis Zürich. Von da aber noch drei Stunden nach Markdorf am Bodensee. Umsteigen in Oerlikon, Winterthur, Schaffhausen, Singen, Radolfzell. Unsere Freundin Susanne feiert 33 Jahre Buchhandlung. Manfred und ich machen eine Lesung mit biographischen Rätseln. Als Ratepreis hat Manfred kleine Stücke Engadiner Nußtorte mitgebracht, ich Bleistifte aus Prag. Das Publikum ist munter, manche möchten lieber ein Stück Nußtorte, manche lieber einen Bleistift. Matthias sitzt in der ersten Reihe und hört zu. Von klein auf war er gerne bei Lesungen dabei; ich glaube, er mag es, unter Leuten zu sein. Nach uns lesen zwei Schauspieler Texte von Robert Gernhardt.
    Wir übernachten in einer privaten Pension bei einer Greisin in Rosa. Mit gepflegten Händen, die Fingernägel französisch manikürt, stellt sie die Brötchen im Frühstückskörbchen auf den Wohnzimmertisch. Wurst- und Käsescheiben hat sie auf einer gläsernen Platte angerichtet und mit Apfelscheiben garniert. Ihr Wollpullover ist eng anliegend; sie trägt ein tiefes Dekolleté. Ihre Brüste sind gebräunt. Sie habe ihren Sohn alleine großgezogen, sagt sie. Jetzt habe er eine Freundin, aber es sei nicht die richtige. Wir sollen vom Engadin erzählen. Sie sieht aus dem Fenster, als könne sie das Tal sehen. Der große Garten vor dem Haus ist mit Bonsai-Bäumen, Steingärten und kleinen Teichen angelegt. Eine Stickerei kontrollierter Naturschönheiten.

Dienstag, 18. Mai
    Es ist sehr kalt, aber die Lärchen stehen in einem Schleier von Grün, die Kastanien rollen langsam ihre Blätter aus. Nasser Mai. Meine Nelken stehen immer noch bei Uorschla vor den Hasenställen hinter der Scheibe. Auch die Hortensie, auch der rotblühende Salbei, den mir Helen letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Dieser Frühling ist den Blumen nicht zumutbar.
     
    Professorenfreunde sind gekommen. Sie fragen, was unsere großen Kinder machen. Was aus dem Kleinen wird, fragen sie nicht so direkt, aber sie denken es. Was lernt ein Kind in einem abgelegenen Bergdorf, in einer Volksschule, in der zwei Klassenstufen in einem Klassenzimmer sitzen, ein Kind, das erst in der 4. Klasse Deutschunterricht erhält (als Fremdsprache!). Vorsichtig fragen sie, ob es in der Gegend ein Gymnasium gebe.
    Wir sind eher gelassen geworden. Wir könnten sagen, Matthias spricht fließend Vallader, das ist eine Art Küchenlatein, ein Grundstock für alle romanischen Sprachen. Und die Großen? Andreas studiert gerne Sport in Köln. Silvia hat noch ein Semester Kulturwissenschaft in Hildesheim. Sie kann sich Theaterarbeit mit Kindern vorstellen.
    Außerdem: beide Großen können kellnern und putzen, selbständig reisen, an der Bar arbeiten und babysitten, Glühbirnen einschrauben und Eltern beruhigen. Und der Kleine lernt Forellen fischen, im Inn.

21. Mai
    Der Flüelapaß sollte wieder auf sein, aber ich bin nicht sicher. Heute in Chur ein Hölderlinabend. Wir wollen in der Nacht zurückfahren. Ab 1. Mai verkehrt der letzte Autozug durch den Vereinatunnel um 20.50 Uhr; wenn der Flüela gesperrt ist,

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