Alle Farben des Schnees
Jahr sei sie auch in Amerika gewesen. Wo? frage ich. In
Vermont, sagt sie. Vermont, rufe ich, das gibt es nicht! Doch, sagt sie, in Burlington. Dort sei es schön.
Wir fliegen diesen Sommer auch nach Amerika, sage ich, zum ersten Mal. Und weißt du wohin? Nach Vermont, Burlington! Dann mieten wir ein Auto und fahren nach Middlebury zum Unterrichten. Ach, sagt Uorschla. Komm mit, sage ich, hüte Matthias. Sie lacht. Natürlich geht das nicht. Es ist die Zeit des Heuens und sie hütet die Enkel zu Hause. Aber für eine Hundertstelsekunde blitzte die Idee der Möglichkeit in ihren Augen auf.
Uorschla und ich sitzen in ihrer Stube. Die Wände sind mit Arvenholz ausgekleidet. Durch die Leinenvorhänge kommt das frühe Licht.
Wo fangen wir an? sagt sie.
Uorschla ist Bäuerin. Ihr Mann Curdin und ihr Sohn Jöri, der Mann der Architektin Seraina, die wiederum die Mutter von Matthias’ Mitschülerin Urezza ist, haben zusammen 23 Kühe und einen Stier. Sie pflegen und mähen Wiesen.
Vielleicht im Frühjahr, sage ich. Misten, sagt sie. Mist ausführen, mit der Egge nachziehen. Wiesen aufräumen. Die steilen Wiesen liegen auf Terrassen, die mit Steinabsätzen befestigt sind. Die Steinabsätze sind nicht so tief beschneit, hier wächst immer noch etwas, deshalb kommen die Hirsche im Winter hierher und suchen sich Futter. Dabei werden die Steine locker und rutschen ab. Man muß sie auflesen, wieder auf den Haufen
tun. Die Kühe auslassen morgens um 7 Uhr, abends wieder reinholen, gegen 17 Uhr. Ihre Klauen schneiden, damit sie schön drauf stehen können.
Ab Juni dann werden die Kühe auf die Alp gebracht, auf die Wiesen gegen Vastur, Larschs, Darsüra, Muschna, Tanter Uals, Taslaina, Soèr. Wenn eine Weide abgegessen ist, wechselt man zur nächsten. Die Kühe schlafen draußen. Ein Hirt ist bei ihnen? Ja, sagt Uorschla. Sie haben den Hirten über die Zeitung gefunden. Er kommt aus der Gegend von Zürich. Seine Eltern haben ein Ferienhaus hier. Er ist ein Bioinspektor, er hat seine eigenen Kühe dabei. Wie? frage ich. Na, eben mit dem Lastwagen hat er sie gebracht, sagt Uorschla. Da machen die Zürcher Kühe also Ferien auf der Unterengadiner Alp, denke ich, und mir fällt ein, daß Not Vital einmal Schafe aus dem Engadin mit der Rhätischen Bahn nach Chur hat fahren lassen. Die Chromstahlabsperrungen, die er für die Zugabteile brauchte, halten heute seinen Kompost im Parkin zusammen.
Ich lerne, es gibt Heimweiden, meist am Stall, sie werden nur einmal im Herbst ausgeputzt. Und es gibt Wiesen. Eine Wiese wird nicht nur abgeweidet, sie wird gemäht. Und es gibt Kunstwiesen, das sind meist tiefergelegene, umgegrabene Äcker, in die schnellwachsendes Gras gesät wird, für die Silage, das durch Milchsäure konservierte Gärfutter. Es gibt Wiesen, die gedüngt und zweimal gemäht werden, und Bergwiesen, die Trocken-oder Magerwiesen, die nicht gedüngt und nur einmal gemäht werden. Die Bergwiesen sind mehr Handarbeit,
sagt Uorschla, weil sie steiler sind. Auf den tieferen Wiesen können Maschinen mähen, zetteln, zusammenwerfen und die Mahden einsammeln. Die Frauen rechen dann nur noch einmal der Spur der Maschine nach. Die hohen Bergwiesen werden zwischen Mitte August und Anfang September gemäht. Alpabzug ist dann Ende September. Früher hatten sie Milchkühe, jetzt haben sie Mutterkühe für Fleisch. Ich frage, ob das nicht schwierig sei. Nein, sagt sie, auch bei den Milchkühen werden die Stierkälber an Mastbetriebe verkauft. Und Mutterkühe müsse man nicht so zwingen. Eine gute Milchkuh soll ja am Tag 30 Liter Milch geben! Die Kühe werden im Dezember oder Januar zum Stier geführt. Nach neun Monaten werden Kälber geboren. Aber Livio, der Stier, läuft frei herum. Wenn die Kälber zehn Monate alt sind, werden sie verkauft.
Im Herbst kommt wieder Mist auf die Wiesen. Die Kühe leben jetzt im Stall, zum Teil auf den Heimweiden.
Das ganze Jahr über wird geholzt. Uorschlas Familie kauft einen Lastwagen voll Stämme, die zerkleinert werden. Wenn die Sonne scheint, brauchen sie weniger, denn sie haben Sonnenkollektoren und Speicher auf dem Dach. Im Winter wird im Stall gefüttert. Sie rechnet zweimal zwei Stunden am Tag Stallarbeit. Heu rüsten, Maschinen pflegen, nach den Kühen schauen. Wenn man nicht aufpaßt, kann viel passieren. Im Winter arbeitet ihr Sohn Jöri aber auch noch auf der Motta Naluns bei der Bergwacht.
Ich frage Uorschla, welche Arbeit sie am liebsten macht. Sie schaut mich an. Dann sagt sie
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