Alle Farben des Schnees
Lucca, Österreich. Nächste Woche London.
Montag, 7. Juni
Der erste Klatschmohn blüht am Straßenrand.
Am Abend gehe ich mit dem Hund. Sonne, Quellwolken, die Wiesen in buntgrünen Wellen. Es beginnt zu regnen. Der Regen ist ganz warm. Quai es ora da
crescher, sagt Uorschla, als ich an ihrer offenen Türe vorbeikomme, ein Wetter zum Wachsen. Das ist gut für die Alpen, sagt sie.
Brigitte hat mir Rhabarber in den Hausflur gelegt. Saft, Marmelade oder eine Wähe machen? Kauf ein paar Erdbeeren dazu, sagt Uorschla, dann wird es süßer. Bis bei uns im Dorf Erdbeeren reifen, dauert es noch lange. In Sent liegt vermutlich das höchste Erdbeerfeld Europas. Letztes Jahr habe ich noch bis gegen Ende August gepflückt. Es war schon abgeerntet, der Verkauf war vorbei. Aber die Erdbeeren wuchsen immer noch nach. Am Rand des Feldes stand ein Kässchen, und man warf so viel Geld hinein, wie man dachte, daß es richtig sei.
Dienstag, 8. Juni
14 Uhr, Andri kommt im kurzärmeligen Hemd über den Dorfplatz. Er spricht kurz mit den Bauarbeitern, die gerade den Brunnen ausbessern. Als Treuhänder verwaltet Andri einige Häuser von Randulins. Zwei will er mir von innen zeigen.
Gleich am Platz schließt er eine unscheinbare Tür auf, die in einen kleinen Palazzo führt. Das Haus gehört einer Familie aus Florenz. Andri läßt mich vorgehen. Statt eines großen Flurs beginnt eine Treppe, die sofort in ein zweites Stockwerk hinaufführt. Siehst du, das ist kein Engadiner Haus, sagt er, da: ein geschnitztes Treppengeländer,
hier: italienische Möbel, messingbeschlagene Truhen. Tapeten.
Anoraks hängen an einem Kleiderhaken, Teleskopstöcke lehnen an einer Wand. Andri öffnet einen italienischen Speisesalon, Zimmer mit Betten, in denen man schlafen könnte, dann wieder Ecken, Vitrinen, in denen alte Dinge rührend verloren wirken. Dieser Krug, diese Pfanne, stehen sie schon da wie in einem Museum? Oder kommt noch jemand, um sie zu füllen?
Wir gehen zurück über den Dorfplatz und unterhalb der Kirche in eine Gasse hinein. Vor einer Fassade, die noch Reste einer alten Bemalung zeigt - dunkle Ornamente, die abblättern -, bleiben wir stehen. Genua, sagt Andri und geht voraus. Es öffnen sich Zimmerfluchten zum Verlaufen. Alte Bilder, Vorhänge, Betten, Salons. Schweres Leinen liegt auf Truhen, Andri zieht eine Schublade auf, Aussteuer für Prinzessinnen. Eine kleine Werkstatt, in der keiner mehr arbeitet, die Hobel in allen Größen sind aufgereiht. Eine Kiste voller Seile, die aus Lederstreifen geflochtenen sind. Wir gehen durch weitere Zimmer, Stuben, Salons, Schlafzimmer, auf die immer noch weitere Räume folgen und gläserne Flure, durch die man hindurchsehen kann; wir stoßen auf Zimmer, durch die wir schon gegangen sind. Andri zeigt mir eine Hutschachtel mit der Aufschrift »Pasticceria Defilla, Chiavari«. Provinz Genua, sagt er, ein weltberühmtes Café. Das Haus gehört der Mutter, sagt er, es gibt einen Sohn, eine Tochter, die auf Reisen
sind. Die Mutter hätte nichts dagegen, das Haus zu verkaufen. Am Boden stehen Schachteln, gefüllt mit alten Briefen. Siehst du diese eingefrorene Italianità?
Er führt mich in den riesigen Gewölbekeller, er zeigt mir den Stall. Hier ein Hotel machen! sagt Andri, nicht auf der Wiese ein neues bauen. Auf der Wiese ein neues Hotel bauen, das kann jeder.
9. Juni
Bedeckter Himmel, verwaschener Indigoton gegen das S-charl-Tal. Blaue Löcher im Dunst, an den Rändern das Weiß von konturierten Wolken.
Rhabarbersaft nach einem Rezept aus dem Internet gekocht. Klassisch. Einen Hocker umgedreht und die gekochte Rhabarbermasse durch eine Windel laufen lassen. Den Saft mit Rohrzucker aufgekocht. In ½ l-Flaschen abgefüllt. Überraschendes Rosa. Eine Flasche habe ich Uorschla geschenkt. Sie hat ein kleines bißchen gestaunt.
10. Juni
Festa d’uffants 2010. Alle neun Jahre (damit es jedes Kind während seiner Schulzeit einmal erlebt, früher alle acht Jahre, weil die Schulzeit kürzer war) feiern die Schüler der Unterengadiner Dörfer Ftan, Tarasp,
Scuol, Sent, Ramosch, Vnà, Tschlin, Strada und Martina einen Tag zusammen. Diese Tradition besteht seit über 100 Jahren. Dieses Mal organisiert Sent das Fest, unter dem Motto »Begegnung«. Rund 450 Schüler versammeln sich unten am Inn auf der Waldlichtung Tramblai, die mit selbst genähten und bemalten, hohen Fahnen umsteckt ist. Die Kinder tragen einfarbige Hemden in verschiedenen Tönen: hellblau, grün, gelb, orange, rot. Die Helfer
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