Alle Farben des Schnees
voller Überzeugung, sie arbeite gerne. Ich weiß, daß sie Sirup aus Holunderblüten herstellt, Salben aus Huflattich, Ringelblumen, Johanniskraut. Hustentee aus Huflattich, Tees aus gesammelten Blumen und Kräutern: Schlüsselblumen, Thymian, Brennessel, Minze. Konfitüren aus Himbeeren, Johannisbeeren. Sie trocknet Apfelschnitze und Erdbeerscheiben.
Vielleicht, sagt sie, würde ich am liebsten ein Buch lesen. Aber wenn du mich nach der Arbeit fragst, dann muß ich sagen, ich mache alles gern.
Uorschla ist in Scuol geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern waren Bauern, sie hatte fünf Brüder. Als ihre Großmutter, die im Haushalt half, starb, war Uorschla neun Jahre alt. Auf einmal mußte sie die Arbeitskraft der Großmutter ersetzen. Ich stieg auf einen Schemel, damit ich im Topf auf dem Herd rühren konnte. Mit 16 ein Haushaltsjahr in Frankreich, dann Bäuerinnenschule in Schiers, ein Jahr als Schwesternhelferin im Krankenhaus in Scuol. Im Sommer Heuen. Mit einem kleinen Ladewagen, dem Traktor Rapid, und zwei Pferden, Nino und Flora. Sie war Kindermädchen und Haushaltshilfe in Bad Ragaz, später in Wädenswil bei einer Familie, die ihre Sommer in Nizza verbrachte. Zuletzt das Jahr in Vermont.
Ich frage nach der Familie in Vermont.
Die Mutter sei eine Protestantin aus Pontresina gewesen, der Vater entstammte einer jüdischen Familie.
Das Paar hatte drei kleine Kinder. Der Vater sei Atomphysiker gewesen, sehr intelligent, sprachbegabt, er habe sehr, sehr gut Romanisch gesprochen. Er sei dann verstrahlt worden. Das habe sie aber erst später erfahren. Ich frage nach. Sie zögert. Er habe sich das Leben genommen. Wenn er weitergelebt hätte, hätte er sich immer hinter Glas aufhalten müssen, um seine Familie nicht zu gefährden.
Samstag, 5. Juni
Heute morgen Sonne und blauer Himmel. Kleine weiße Wolken. Die Wiesen beginnen nach Wiese zu riechen. Eine warme Süße. Die Idee von Honig. Der Hund gräbt seine Schnauze in die Gräser, die Blumen, wälzt sich.
Gestern kam Manfred aus Chur zurück. Esther hat für das romanische Radio eine Sendung mit dem Romanischprofessor Clà Riatsch und Manfred gemacht »Duos professors ed üna balla«, zum Fußball und zur Fußballweltmeisterschaft. Esther hatte Manfred die Fragen zur Vorbereitung geschickt, aber Manfred sagt stolz, in der Sendung habe er romanisch improvisiert. Später am Telephon sagt Esther, ja, es sei alles gut gegangen. Sie habe alle »ähs« rausgeschnitten. 125 Schnitte habe sie gemacht.
Konzert des Chor-Projekts in der Kirche. Lehrer Andri organisiert alle zwei Jahre ein Programm, das Erwachsene aus dem Dorf mit Schülern der 5. und 6. Klasse zusammen singen. Dieses Jahr war es ein Schlager-Konzert (von den Comedian Harmonists, »Mein kleiner grüner Kaktus«, bis zu den Prinzen, »Alles nur geklaut«, dazwischen aber auch »Engiadina« von Paulin Nuotclà und »Am Himmel stoht es Stärnli«). Die Kirchenbänke sind dicht besetzt. Ich finde es immer wieder erstaunlich, daß das Dorf zu solchen Anlässen dann auch kommt. Risch Biert, Sohn von Angelica, am Flügel. Klarinette und Saxophon Domenic Janett, von den »Fränzlis da Tschlin« (der traditionsreichen und weit über das Engadin hinaus bekannten Musikgrupppe), Dirigent Jachen Janett, Gesangslehrer an der Musikschule des Oberengadins.
Das nächste Chor-Projekt soll es schon nächstes Jahr geben: Joseph Haydn, Missa brevis in F, und Michael Aschauer, Missa anima integra. Manfred, Matthias und ich singen mit.
Auf dem Heimweg schaut Uorschla gegen den Nachthimmel und sagt: Es ist der erste warme Abend des Jahres; es ging so schnell.
Sonntag, 6. Juni
21.15 Uhr, Matthias war im Freibad in Scuol, jetzt spielt er noch draußen. Er ist nicht ins Bett zu bekommen. Die Kinder sind wie aufgeladen. Mit einer Plötzlichkeit ist der Sommer da. Niemand will schlafen. Der Flieder blüht und duftet in den Straßen. Die Schwalben fliegen zickzack. Der Schnee liegt in letzten Flecken auf den oberen Bergrücken. Die Hänge des Piz Pisoc sind noch marmoriert, von der Lischanagruppe kommt das Weiß die graugrünen Furchen herunter, wie gegossen.
Ich habe die Engadiner Hängenelken in den Kästen auf die Fensterbretter gestellt.
Auf einmal steht Not in der Tür. Er trägt einen Strohhut, ein gelbes Jackett, kurze schwarze Hosen, blaue Schuhe. Seine nackten Beine sind voller Sommersprossen. Er spult seine Leporelloliste der bereisten Orte herunter. Chinesische Topographien, aber auch Italien,
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