Alle Farben des Schnees
springt mich an: »I’m an interpreter in six languages, but I had help to book a French restaurant.« American Express macht Reklame für die Platinum-Kreditkarte. Ich verstehe die Zeile nicht. Warum braucht jemand, der in sechs Sprachen dolmetschen kann, Hilfe, um einen Tisch in einem französischen Restaurant zu buchen? Ich schaue auf die Photographie, die die ganze obere Hälfte der Seite einnimmt. Sie zeigt eine Familienszene um einen Tisch. Das Ich, das spricht, ist Jacqueline Mueller, Dolmetscherin, Mutter. Sie blickt dem Betrachter der Anzeige mit selbstbewußtem Lächeln entgegen. Das Mädchen neben ihr, wohl die Tochter, senkt bei aufrechter Körperhaltung den Blick und lächelt in die Speisekarte, die die Mutter hält. Die beiden weiblichen Personen im Zentrum des Bildes sind scharf gezeichnet; die männlichen Figuren, Vater und Sohn, erscheinen nur an den Rändern, unscharf und im Halbprofil. Während der Sohn lächelnd in Richtung Vater sieht, wirkt das Lächeln des Vaters wie in die Szene hineinretouchiert, es bleibt umfassend diffus. Warum die Familie lächelt, erklärt das Bild nicht. Jedenfalls haben sie zu viert nur eine Speisekarte.
Der Textblock erklärt: »I speak French fluently, but that didn’t open any doors when I tried to book a table at the finest place in town. When I asked American Express to see what they could do, all they asked was how many were in my party and what time we
would prefer to dine.« Das fließende Französisch der Dolmetschermutter mit dem französisch-deutschen Namen öffnet ihr nicht die Tür ins feinste französische Restaurant der Stadt. Ein Anruf bei American Express aber genügt, und sie bekommt, was sie will. Ich verstehe: »the finest place in town« ist immer ausgebucht. Um da hineinzukommen, braucht es eine Platinum-Kreditkarte. Zwei Zeilen fassen zusammen: »My life is about reaching understandings. My card speaks my language.« Es ist die alte Botschaft: Geld öffnet Türen, wo das Wort keine Chance hat.
Aber wie sieht es aus »at the finest place in town«?
Die Farbigkeit der Photographie ist in Brauntönen gehalten. Um einen viel zu kleinen Tisch sitzen vier Menschen, die sich nicht ansehen. Der sehr blasse Vater dürfte eher ein Nordeuropäer sein, während Mutter und Tochter mit den mandelförmigen Augen südlich wirken, auch zum Beispiel indische Vorfahren haben könnten. Diese Familie ist eine heimatvariable, multinationale Gemeinschaft.
Was gibt es zu essen? Die weißen Teller sind leer, vier Gläser sind gefüllt mit Wasser. In der Mitte steht ein durchsichtiges Pfeffer- und Salzstreuer-Set. Der Raum wirkt transitorisch. Es könnte sich auch um eine Autobahnraststätte, ein Flughafenbistro handeln.
Wer möchte an so einem Tisch sitzen?
Ich befürchte, meine Irritation ist rettungslos naiv. Es geht ja nicht um Sinnlichkeit, um Genuß. Hier will keiner essen. Niemand sucht ein gutes Restaurant. Der
Raum, den man betreten soll, ist die Karte selbst: »My life. My card.« Damit hat sich auch das Sprachparadox geklärt.
Ich zeige Manfred die Anzeige. Sicher, sagt er, hier wird Heimat angeboten als Kreditkartengemeinschaft. Die Familie ist fröhlich; sie begeht ein fetischistisches Ritual. Gott ist nicht tot, er ist viereckig, fünf auf acht Zentimeter, ein Stück Plastik, auf dem Platinum steht.
Ist eine Kreditkarte vielleicht auch eine Oblate? frage ich mich.
3. Juni
Stolpern querfeldein über Präpositionen. Ich brauche die Formulierung »am Klavier«, ich schrieb »pro’l clavazin«, Matthias hatte das so gesagt. Esther sagt, das hieße aber: neben dem Klavier. Sie sagt, probiere etwas mit »sunar clavazin«, Klavierspielen. Aber ich brauche das Wort »sunar« schon für die Schlußzeile.
Dann sagt sie »vi dal clavazin«, analog zu »vi da la maisa«, am Tisch. Oder: »al clavazin«.
Auf Deutsch (das Gedicht funktioniert im Romanischen über die Nähe von »clavazun«, Engerling, und »clavazin«, Klavier) würde mein Gedicht etwa so lauten:
Die Metamorphose des Engerlings oder Idas Idee
Sie war
das Mädchen,
das am Klavier
sterben wollte.
Heute spielt sie.
Romanisch:
La metamorfosa dal clavazun, o L’idea d’Ida
Ella d’eira
la mattina
chi vulaiva
murir
al clavazin
Hoz suna ella
4. Juni
Ich sollte mit einer Sammlung von Zufällen beginnen, die sich keine Literatur, nur das Leben leisten kann.
Am Brunnen erzählt mir Uorschla, daß sie, als sie jung war, in Familien Kinder gehütet habe. Ein
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