Alle Farben des Schnees
Texte auf romanisch lesen; ich etwas auf deutsch. Rut hatte mir vorgeschlagen, daß sie einige meiner romanischen Gedichte liest. Jetzt höre ich meine Texte in ihrer romanischen Stimme. Auf einmal glaube ich ihnen. Dann lesen wir aus ihrem Buch über ihren verstorbenen Sohn, abwechselnd romanisch und deutsch.
17. August
Silvia startet gegen 13 Uhr in Hannover, fliegt über Heathrow nach New York. Manfred startet gegen 14 Uhr in Burlington, fliegt über Washington Dulles nach Zürich. Sie sind zur selben Zeit im selben Luftraum. Wo und in welcher Zeitzone sind sie sich wohl am nächsten?
18. August
Andreas fährt uns mit dem Auto zum Bahnhof nach Scuol. Matthias springt gleich auf den Bahnsteig. Manfred ist wieder da.
20. August
Uorschla und ihr Mann Curdin nehmen mich im Auto mit zum Heuen. Ihr Sohn Jöri fährt den Heuwagen; ihre Schwiegertochter Seraina wird nach der Arbeit im Architekturbüro nachkommen. Ich habe zum ersten Mal einen langen Heurechen in der Hand. Wir steigen eine steile Wiese hinauf. Das Gras ist schon geschnitten und getrocknet, wir werden es zusammenrechen zu Reihen, die später mit dem Heuwagen aufgenommen werden. Manchmal müssen wir die Mahden auch tiefer herunterziehen, bis das Gelände so flach wird, daß die Maschine darauf fahren kann. Die Arbeit ist anstrengend, aber auch lustig. Ich ziehe dieses grüne, wie gefiederte Blumenheuvolumen herunter, und es sind solche Mengen, daß ich bis zur Hüfte, zur Brust im Heu stehe. Manchmal verhakt sich der Rechen im Boden. Dann muß ich ihn kippen, bis er sich löst. Wenn man mit Gewalt zieht, verbiegen sich die Zinken. Beim Versuch, eine Zinke wieder zurechtzubiegen, bricht sie mir ab. Uorschla sagt, das macht nichts, im Winter richtet Curdin das Werkzeug wieder. Uorschla spricht romanisch mit mir. Seraina kommt mit blauem Kopftuch, Sonnenbrille und kurzen Hosen. Ich erkenne sie nicht gleich. Sie sieht aus wie ein Mädchen. Und dann sehe ich, wie sie mit dem langen Rechen in leichtem, wellenhaftem Schwung so über die Wiesen streicht, als könne das Heu gar nicht anders als ihr entgegenzufliegen. Manchmal arbeiten wir alle in einer Linie. Ich überlege, wann
ich das letzte Mal intensiv körperlich mit jemandem zusammengearbeitet habe. Nach etwa drei Stunden ist die Wiese heufrei und grün, wie frisch gekämmt. Jöri ist zweimal mit dem Heuwagen gefahren. Manchmal steht der Transporter so schräg am Hang, daß ich denke, er muß kippen. Einmal sehe ich, daß Uorschla sich wegdreht, sie denkt das wohl auch. Das Heu, das wir heute eingebracht haben, reicht in etwa, um eine einzige Kuh über den Winter zu bringen. Seraina sagt, die Bauern sind auch Landschaftspfleger. Sie werden für das Mähen und Pflegen dieser Wiesen vom Staat subventioniert.
27. August
Letzten Sommer hat Andreas bei Not Vital im Parkin gearbeitet, dem Skulpturengarten am Westrand des Dorfs. Mit Andreas waren auch Manfred und ich manchmal im Garten. Aber bei der öffentlichen Freitagsführung habe ich noch nicht mitgemacht. Ich reihe mich unter die Touristen, die am Eingangsgatter stehen. Cla Rauch, der ehemalige Lehrer, führt. Er fragt: welche Sprache möchten Sie? Ich habe anzubieten: ein wohl ordentliches Romanisch, ein schlechtes Deutsch und ein schlechtes Schweizerdeutsch. Dann spricht er perfektes Hochdeutsch. (Immer wieder das Erstaunen über die souveräne Bescheidenheit der Senter.)
Diese Badewanne, sagt er, hat Not Vital aus Lucca
mitgebracht, er deutet auf das ausladende, geschwungene Marmorbecken, das am Ende eines Wiesenplateaus beim Eingang der Parkanlage steht. Heinrich Heine war in den Thermen von Lucca; er könnte in der Wanne gebadet haben.
Wo die schöne Wanne steht, hätte einst eine Villa mit Badezimmern gebaut werden sollen. Luzio Crastan, ein Randulin, Besitzer einer Zichorienfabrik in der Toscana, hat um 1926 die steile Wiese zwischen dem Bach und der Ruine der romanischen Kirche San Peder gekauft. Für ihn war es der ideale Ort für paradiesische Sommerferien und einen Alterssitz. Nikolaus Hartmann, der Architekt, der auch den spitzen Senter Kirchturm entworfen hat, wurde mit der Planung der Villa und der Parkgestaltung beauftragt. Es entstanden Wege, Treppen mit Innkieseln und einem Geländer, in das eine Wasserleitung integriert war, eine Pergolaterrasse mit Eschen (dem italienischen Weinlaub hat Luzio Crastan auf dieser Höhe nicht vertraut), ein kleines, halbrundes Schwimmbassin und eine Garage am Garteneingang zu einer Zeit, da es in
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