Alle lieben Merry
natürlichen Sichtschutz für die Veranda.
Er stand wie versteinert, weil er sie sehen konnte. Viel, viel zu deutlich. Sie geht mich nichts an, sagte er sich, nahm noch eine Handvoll Cashewnüsse und kaute noch grimmiger. Er spielte nicht den Ritter auf dem weißen Pferd, für niemanden. Nicht mehr. Warum sollte es sein Problem sein, dass eine Fremde sich entschlossen hatte, vor seinen Augen ein Heulkonzert zu veranstalten?
Er nahm die Mineralwasserflasche. Dann stellte er sie wieder auf den Tisch. Es war mehr als eisig draußen. Himmel, sie hatte nicht einmal eine Mütze auf.
Soweit er es beurteilen konnte, hatte sie vom lieben Gott nicht mehr Verstand mitbekommen als eine Gans.
Er schnappte sich eine Jacke und marschierte hinaus. Je näher er kam, desto schlimmer wurde der Anblick.
Sie war nicht gut im Weinen. Sie war einer von diesen Menschen, die sich beim Heulen total verausgabten. Gestern hatte er begonnen, sich mit der Vorstellung anzufreunden, eine exzentrische Nachbarin zu haben. Aber hauptsächlich deshalb, weil sie so verdammt schön war – und als Mann war man generell bereit, viel zu tolerieren, wenn der Anblick einen dafür entschädigte.
Doch dieser Deal war abgesagt. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und rang nach Luft. Die Augen waren rot und geschwollen.
“Hey”, sagte er. Und dann wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Vielleicht war er nicht wirklich in Hochstimmung, aber wie ein Bär, der sie anbrummte, hatte er nicht klingen wollen. Aber genau so hörte es sich an.
Ihr Kopf fuhr herum, als hätte jemand sie geschlagen. “Oh, Sie sind es! Du meine Güte. Ich wusste nicht, dass man mich sehen kann. Es geht mir gut …”
Ja, klar. Ihr ging es, wie man sah, fantastisch. Er wollte ihr vorschlagen, zurück ins Haus zu gehen und sich dort die Augen aus dem Kopf zu weinen – nachdem sie die verdammte Tür hinter sich geschlossen hatte. Es schien jedoch, als könnte nicht einmal er ganz so kaltherzig sein.
“Sind Sie krank?”, fragte er linkisch.
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Offenbar hatte die einfache Frage genügt, um die Schleuse für neue Tränen zu öffnen. Denn da war das Weinen wieder. “Sie hasst mich!”
Er hätte fragen können, von wem zum Teufel die Rede war, aber das wäre ziemlich dumm gewesen, wenn das einzige in Frage kommende Objekt nur Charlies Tochter sein konnte. “Sie haben sie also heute kennengelernt.”
“Ja. Und ich habe damit gerechnet, dass es schwierig wird, aber doch nicht so. Es ist gar nicht zu beschreiben. Sie hasst den rosa Baum …”
“Sie machen Witze!”
“Ihre Probleme sind für mich jenseits des Bewältigbaren. Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Und
sie
will nicht anfangen – nicht mit mir. Sie will nicht mit mir reden, will nicht, dass ich in ihrer Nähe bin …”
Er setzte sich neben sie auf den Betonboden. Nicht, weil er die Unterhaltung fortsetzen wollte, sondern weil sein Tag zu lang gewesen war, um – wenn er schon zuhören musste – endlos in der Kälte herumzustehen. “Glauben Sie nicht, dass Sie voreilige Schlüsse ziehen? Sie kennt Sie nicht einmal, Marta.”
“Merry, nicht Marta. Und Merry wie in
M-e-r-r-y
, nicht M-a-r-y. Wie Merry Christmas, okay?”
Er durchsuchte seine Jacke nach einem Papiertaschentuch. Da er morgens oft joggen ging, wenn es kalt war, hatte er meist einen Vorrat davon dabei. Offensichtlich hatte er letztens in der Eile ein Stück Küchenrolle erwischt. Egal. Es erfüllte den Zweck, dass sie sich die Nase putzen konnte. Man musste ihr zugute halten, dass sie keine Zeit verschwendete, sich wegen der Heulerei zu entschuldigen oder ein Theater daraus zu machen, dass er sie gesehen hatte.
Als sie sich fertig geschnäuzt hatte, sagte sie: “Sie haben erwähnt, dass Sie Charlie kannten. Also müssen Sie auch seine Tochter kennen, oder?”
“Natürlich. Ich meine, sie war die ganze Zeit dabei, aber ich kann nicht sagen, dass ich sie gut kenne. Charlie und ich waren gute Freunde und Nachbarn. Wir haben oft zusammen Bier getrunken, über Gartenarbeit gemeckert und uns über den Zaun hinweg über Kindererziehung, das Leben und Exfrauen unterhalten. Wir kamen einfach gut miteinander aus. Ich mochte ihn.”
“Ich auch. Im ersten Moment, als ich ihn gesehen habe, hat es ‘Klick’ gemacht. Kein sexuelles ‘Klick’, nur ein freundschaftliches. Er war offen, witzig und intelligent. Und fürsorglich.”
“Sie mochten ihn so gern, dass Sie ihn in den letzten vier Jahren kein einziges
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