Alle lieben Merry
Dougall-Jungen?”
Charlene zuckte die Achseln. “Er hat gesagt, es täte ihm leid. Ich bin mir nicht sicher, ob er es nur so sagt oder wirklich meint. Ich glaube, man hat ihm befohlen, irgendetwas zu sagen, weil er mich als Lesbe hingestellt hat. Die Lehrer flippen immer gleich aus, wenn man etwas über Homosexualität sagt. Aber egal.”
Egal.
Die übliche Antwort. Aber das Gesicht des Kindes wirkte immer noch bedrückt. “Bist du wegen des Streits um die Gewehre noch böse auf mich?”
“Nein.”
Merry nahm an, dass eine so knappe Antwort eigentlich ein
Ja
bedeutete. Mehr aus Charlie herauszukriegen war sehr mühsam. “Gestern kam ein Anruf”, fuhr sie fort. “Es war June Innes. Erinnerst du dich an sie?”
Endlich sah Charlie sie direkt an. Argwöhnisch. “Sicher. Sie war diejenige, die mit mir geredet hat, als Dad gestorben ist. Ich meine, das hat auch eine Sozialarbeiterin getan. Aber Mrs. Innes war anders. Es war irgendwie komisch, wissen Sie. Sie meinte, sie hätte die Macht, zu bestimmen, was mit mir geschieht. Dass sie irgendwie diejenige ist, die mich vor Gericht vertritt.”
Merry nickte. “Ich weiß auch nicht, ob ich die Funktion einer Verfahrenspflegerin in Gänze durchschaue, Charlie. Aber du hast richtig verstanden, sie soll auf deiner Seite sein und deine Bedürfnisse vertreten. Und sie hat angerufen, um zu sagen, dass sie am Montag nach der Schule vorbeikommt. Einfach, um nach dir zu sehen.” Sie wollte noch Genaueres erzählen, doch Charlie wirkte alarmiert.
“Mir geht es
bestens.
Niemand braucht mich zu
vertreten.
Niemand braucht nach mir zu sehen. Es ist alles in Ordnung. Ich will nicht mit ihr reden. Sie werfen mich schon nicht aus dem Haus, nur weil ich Probleme in der Schule habe, oder? Ich habe bis jetzt noch nie in Schwierigkeiten gesteckt. Kein einziges Mal. Ich hatte nur einen schlechten Tag!”
Merry gab es einen Stich ins Herz. “Ich würde dich nie rauswerfen, Dummerchen, ob du nun einen schlechten Tag oder einen guten hast. Aber wir können nicht verhindern, dass Mrs. Innes uns besucht, Charlie. Und sie ist wirklich auf deiner Seite. Allerdings muss ich zugeben, dass mir nach ihrem Anruf bewusst geworden ist, was für ein Durcheinander wir im Haus angerichtet haben. Wir sollten vielleicht etwas Ordnung machen, bevor sie kommt.”
“Ich kann das Haus saubermachen. Ich weiß, wie man das macht. Sie brauchen nichts zu tun.” Und dann brach es wieder aus ihr hervor: “Ich will nirgendwohin. Nur hier sein. Ich verstehe nicht, warum sie bestimmen darf, was mit mir geschieht. Sie
kennt
mich gar nicht. Du bist doch nicht wütend auf mich, Merry, oder? Ich kann braver sein. Und ich kann gut putzen. Du lässt nicht zu, dass sie mich wegbringt, nicht wahr?”
“Niemand, aber auch überhaupt niemand wird dich von hier wegbringen, Charlie”. Arme Kleine, dachte Merry. Der verrückte Bürstenschnitt, das coole Getue und die Gewehre waren das genaue Gegenteil ihres wahren Ichs. Dahinter steckte ein schrecklich verletzliches kleines Mädchen. Das in der Aufregung sogar endlich vergessen hatte, sie hartnäckig zu siezen. “Aber ich nehme an, dass Mrs. Innes vorschlagen wird, dass du zu einer Beratung gehst.”
“Ich brauche keine doofe Beratung.
Warum?”
“Weil es schrecklich schlimm ist, wenn man jemanden verliert. Schwierig, den Schmerz auszuhalten. Es gibt Menschen, die dir helfen können …”
“Indem sie zum Beispiel meinen Dad zurückbringen?” Charlie rollte die Augen. “Ich werde nicht mit irgendeinem Fremden über meinen Dad reden. Das Ganze ist Blödsinn. Es ist etwas, das Erwachsene gern tun, damit sie sich besser fühlen.”
“Du hast recht”, sagte Merry langsam.
“Ich
versuche
, keine Schwierigkeiten zu machen. Nichts falsch zu machen. Ich weiß, diese Woche habe ich es in der Schule vermasselt …”
Okay. Das Kind brach ihr das Herz. Charlie war einfach so zurückhaltend, so gehemmt. So angespannt. So bemüht, etwas durchzustehen, was ihr über den Kopf gewachsen war. “Schau, Charlie, wir müssen uns mit Mrs. Innes treffen. Wir haben keine andere Möglichkeit. Aber sie kommt nicht vor Montag. Bis dahin ist es noch lange hin. Nehmen wir erst mal den heutigen Tag in Angriff.”
“Ja, das hast du schon gesagt. Wir müssen das Haus in Ordnung bringen. Und ich habe gesagt, ich mache das.”
“Nein.”
“Nein?”
“Nein”, entgegnete Merry entschlossen und räumte den Tisch ab. “Ich weiß vielleicht nicht, was man mit Autoteilen und
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