Alle lieben Merry
für sie war das offenbar ein legitimer Grund gewesen, die Ehe zu beenden und wegzugehen.
Er hatte sich wie der letzte Dreck gefühlt.
Wie ein Nichts.
Sein Leben, seine Liebe, ja, er
selbst
, zählten anscheinend so wenig, dass es ihr möglich gewesen war, ihn zu verlassen, ohne ihre Entscheidung eventuell noch einmal zu überdenken.
Er wandte sich wieder an Cooper. “Kein einziges Mal – nie – habe ich mich mit jemandem getroffen, der wie eure Mutter ist.”
“Okay, okay, Dad. Entspann dich. Vergiss, was ich gesagt habe. Sieh dir das Spiel an.”
Richtig, das Spiel …
Merry hatte sich mit solcher Entschlossenheit und solchem Enthusiasmus in die Woche gestürzt, dass sie sich auf June Innes nächsten Besuch beinahe freute. Dieses Mal war die Verfahrenspflegerin erst viel später gekommen, als Charlie schon längst von der Schule zurück war. Dieses Mal war das Haus blitzsauber. Merry hatte ihre abgebrochenen Nägel als Beweis. Und dieses Mal servierte sie June Tee und Plätzchen in der Küche. Es gab sogar Servietten. Sie war so verdammt gut vorbereitet, dass überhaupt nichts schiefgehen konnte.
Das hatte sie zumindest gedacht. Der Besuch gestaltete sich jedoch ähnlich angenehm wie ein Aufenthalt im Reptilienhaus. June erklärte, eine Allergie gegen Ingwerkekse zu haben, und eröffnete die Unterhaltung mit: “Die Schule hat erwähnt, dass Charlene sich geprügelt hat.”
“Aber das war an dem Tag, als sie zum ersten Mal nach dem Begräbnis wieder zum Unterricht ging. Also in einer Zeit, in der sie wirklich sehr belastet war. Seither hat es keine Probleme mehr gegeben.”
“Da hat die Schulverwaltung mir allerdings etwas anderes berichtet.” Mrs. Innes trug die gleichen Kleider wie vorige Woche, nur diesmal in Grau statt in Marineblau. “Ich habe gehört, dass die anderen Kinder Charlene ‘Homo’ und ‘Lesbe’ nennen. Dennoch haben Sie letztens darauf bestanden, dass man ihr erlauben soll, weiterhin diese lächerliche Kleidung zu tragen.”
Dieses Mal, so hatte Merry sich vorgenommen, würde sie ehrlich und wohlüberlegt antworten und nicht die Beherrschung verlieren. “Für sie ist es nicht lächerlich, June. Ich weiß nicht genau, warum sie sich ausgerechnet für diesen Militarylook entschieden hat. Aber ich denke, das Militärische hilft ihr, sich … stark zu fühlen. Und sie empfindet es als tröstlich, wenn sie die Sachen ihres Dads tragen kann. Es ist ihre Art, ihm nahe sein zu können.”
“Sie sind unpassend.”
Als June endlich wieder gegangen war, bekam Merry ihre durchdringende, autoritäre Stimme nicht mehr aus dem Kopf. Es war Charlie, deren Herz sie gewinnen wollte, nicht das von June Innes. Charlie, deren Vertrauen zählte, nicht June Innes’. Aber verflucht, sie hatte immer noch Junes Worte im Ohr, dass sie “bedauerlicherweise” die Sache dem Gericht melden müsste, wenn Merry die Situation mit Charlie nicht bald unter
Kontrolle
brächte.
Merry legte den Kopf auf ihre Arme am Küchentisch, wie sie es als Kind immer getan hatte, wenn sie einen Augenblick brauchte, um sich wieder zu sammeln.
“Ich habe sie gehört.”
Merrys Kopf schnellte rascher hoch, als ein Springteufel aus seiner Schachtel hüpfen konnte. Sie zwang sich, Charlene beruhigend zuzulächeln. “Mach dir keine Sorgen.”
“Ich verstehe nicht, was sie meint. Dass sie ‘die Sache’ dem Gericht melden wird.”
“Liebes, es ist ihr Job, wieder ins Gericht zu gehen. Sie muss dem Richter berichten, ob ich ein guter Vormund bin.”
“Tja, das bist du. Ich habe es ihr gesagt. Ich habe ihr gesagt, dass wir einfach wunderbar miteinander auskommen. Was ist also ihr Problem?”
Merry wusste sehr gut, dass Charlie alles sagen würde, um zu Hause leben zu dürfen. Diese Art der Bestätigung war also nicht wirklich … nun ja, nicht wirklich eine Bestätigung. Aber sie bemühte sich um eine ehrliche Antwort. “Mrs. June ist nicht der Meinung, dass ich ein gutes Vorbild bin und genug Erfahrung mit Kindern habe. Und sie glaubt, dass ich nicht genug ‘Kontrolle’ über dich habe. Das sind Bereiche, über die sie sich ja auch Sorgen machen muss, Charlie. Aber konkret ging es heute darum, dass sie einfach findet, du solltest statt der Sachen deines Vaters Mädchenkleidung tragen.”
Charlie holte Milch aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein. “Ich tue niemandem mit meinen Klamotten weh. Ich verstoße damit nicht gegen eine Vorschrift. Und mein Dad hat immer gesagt, dass niemand jemals einen
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