Alle lieben Merry
anderen Menschen kontrollieren kann. Dass das nur eine Illusion ist.”
“Manchmal glaube ich, du bist klüger als alle Erwachsenen, die ich kenne.”
Charlie trank ihr Glas aus und wischte sich mit dem Handrücken das Milchbärtchen weg – zumindest den größten Teil davon. Als sie wieder zu reden begann, klang ihre Stimme sehr alt und weise. “Du wirst weggehen, Merry. Die Sache wird nicht funktionieren. Mir war das von Anfang an klar. Aber bitte geh nicht, weil diese dumme Frau sagt, du hast die Situation nicht unter Kontrolle. Das ist totale Scheiße.”
“Wir müssen uns stärker bemühen, nicht mehr Wörter wie Scheiße zu verwenden. Weil die einem in Gegenwart der falschen Leute sonst nämlich einfach herausrutschen. Und abgesehen davon wünsche ich mir, dass du versuchst, mir zu glauben, dass ich nicht weggehe.”
“Ich bemühe mich, es zu glauben.”
Aber nachdem Charlene mit angehört hatte, wie June Innes sich über Merrys Vergangenheit, ihre ständigen Jobwechsel und ihr unstetes Leben ausgelassen hatte, hatte sie eins und eins zusammengezählt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass Merry nicht für immer hier bleiben würde. In der vergangenen Woche war nicht genug Zeit gewesen, um Charlie vom Gegenteil zu überzeugen. So sehr sich Merry auch bemüht hatte.
Es war auch nicht lang genug für Merry selbst gewesen, sich vom Gegenteil zu überzeugen.
“Schau”, sagte sie, “du hast mir gar nicht erzählt, dass die Kinder in der Schule doofe Dinge zu dir sagen.”
Charlie kräuselte die Nase. “Schule eben. Kinder beschimpfen einander schon mal. Das tun sie einfach. Wie irgendwelche Idioten mich nennen, ist mir doch egal.”
“Okay. Aber wie wäre es damit, wenn wir etwas ausprobieren, um Mrs. Innes zu zeigen, dass es dir gut geht?”
“Was zum Beispiel?”
“Zum Beispiel …” Merry überlegte. “Wie wär’s zum Beispiel damit, deine Schulfreundinnen über Nacht einzuladen?”
“Du meinst, es können ein paar aus meiner Klasse zu uns kommen und hier schlafen?”, fragte Charlie ungläubig.
“Klar, warum nicht? Gefällt dir die Idee?”
“Doch”, sagte Charlie. “Wie viele kann ich einladen?”
“Wie viele willst du denn einladen?”
“Hm … Sandra … und Bo. Robin. Quinn. Jane. Hm …”
“Das passt genau. Das schaffen wir.”
“Vielleicht sollten wir dieses doofe Valentinstagsfest vergessen”, warf Charlie ein.
“Oh nein. Da gehen wir hin.”
“Aber du gehst zusammen mit Mr. Mackinnon, stimmt’s?”
“Äh … ich weiß, dass Jack zugesagt hat, aber weiß nicht, ob es hundertprozentig sicher ist, Charl.” Was für eine Untertreibung, dachte Merry. Genau genommen gab es nicht viel, dessen sie sich momentan sicherer war.
Je besser sie Charlie kennenlernte, desto stärker hatte sie tief in ihrem Inneren das Gefühl, dass viel auf dem Spiel stand. Nicht nur für Charlie, sondern auch für sie selbst. Es gab Dinge, die konnte sie vermasseln, ohne sich danach schlecht zu fühlen. Dinge, bei denen sie versagen und die sie hinter sich lassen konnte.
Aber sie durfte nicht bei Charlie versagen. Das würde gleichzeitig bedeuten, an etwas sehr Zerbrechlichem in ihrem eigenen Inneren zu scheitern.
Merry spürte,
wusste
, das sich das Kind immer noch im Stich gelassen fühlte. Charlie war noch immer verschlossen, hatte kein Vertrauen und verhielt sich extrem vorsichtig. Sie hielt sich irgendwie über Wasser. Und obwohl Merry mittlerweile Berge von Büchern über Kinder und Trauer gelesen hatte, schien Charlie – sofern man es von außen beurteilen konnte – ihren Schmerz noch nicht zugelassen zu haben. Die Trauer saß als dickes Knäuel tief in ihr drinnen.
Obwohl Merry nie einen Elternteil durch Tod verloren hatte, wurde ihr in Charlies Gegenwart immer stärker bewusst, dass sie selbst einen ganz bestimmten Verlust unverarbeitet mit sich herumschleppte, auch nach all den Jahren, die seither vergangen waren.
Für eine Frau, die freudig und bewusst Tausende Male in ihrem Leben ein Risiko eingegangen war, war sie jetzt extrem vorsichtig. Nicht nur bei Charlie hatte sie Angst, einen Fehler zu machen … sondern auch bei Jack.
Jetzt, in diesem Moment, fühlte sich Merry diesem einen Kampf, den sie unbedingt gewinnen musste, so ausgeliefert wie noch nie – für Charlie ein Zuhause zu schaffen. Und eines für sich selbst. Einen Ort, wo sie bleiben konnte. Wo sie nicht mehr flüchten musste – vor ihrem Leben, vor ihrer Trauer oder vor sich selbst.
8. KAPITEL
E in
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