'Alle meine Kinder'
verbrachten Wochen auf der Terrasse seines Hauses, elend und geschwächt von der Chemotherapie, und Hodes geriet selbst an den Rand der Erschöpfung. Danach blieben die beiden Jungen als Pflegekinder bei ihm. Sie gingen in die Schule, Mohammed das erste Mal in seinem Leben.
»Was erzählt ihr euren Schulkameraden, wenn sie sich nach euren Beinen erkundigen?«, fragte Hodes sie einmal beim Abendessen.
»Ich sage ihnen, dass ich Krebs hatte, dass es mir aber wieder gut geht«, sagte Mohammed.
»Ich nicht!«, rief Temesgen, der aus einem kleinen Dorf stammte, in dem das schnellste bekannte Transportmittel ein Eselskarren war. »Ich sage ihnen, dass ich es bei einem Flugzeugabsturz verloren habe.«
Die beiden Jungen hatten dieselbe Schuhgröße. Eines Tages nahm Hodes sie mit zum Schuhkauf. Temesgen und Mohammed suchten sich das auffälligste Paar Turnschuhe aus, das sie finden konnten. Dann teilten sie es sich.
Als Haregewoin Hodes auf seinem Handy erreichte, war er gerade bei einer Patientin und sagte, dass er sie zurückrufen würde.
Er war vor ein paar Tagen um Hilfe gebeten worden; ein junger Mann hatte ihn angerufen und erklärt: »Meine Schwester ist krank, Herr Doktor. Sie kann nicht aufstehen.«
Hodes verabredete sich mit Kiber, der vielleicht neunzehn Jahre alt war, an einer Kreuzung im nordöstlichen Teil der Stadt. Kiber begrüßte ihn mit Abi , einer ehrerbietigen Form von »Vater«, mit der ein junger Mann seinen Respekt gegenüber einem älteren Mann bekundet. Er schüttelte Hodes kräftig die Hand, und dann eilte er eine steinige Straße hinunter, wobei er gelegentlich über die Schulter sah, ob der Arzt ihm folgte. Kiber bog rechts ab und sprang über einen niedrigen Drahtzaun auf ein unkrautüberwuchertes Grundstück. Etwas zurückgesetzt von der Straße stand dort ein Betonbau, von dem die grüne Farbe abblätterte; ein Trampelpfad führte durch das hohe Unkraut zur Eingangstür. Hodes holte tief Luft, strich seine Haare zurück und duckte sich hinter dem jungen Mann durch die Tür in einen dämmrigen Raum.
Wie Haregewoin sah auch Hodes tagtäglich die Personifikationen der epidemiologischen Daten. Die Diagramme aus Genf, Washington und Paris verwiesen auf die weite Verbreitung von HIV unter Soldaten, Säuglingen und Prostituierten. Haregewoin Teferra und Rick Hodes kannten Soldaten, Säuglinge und Prostituierte. Sie sahen den Balkendiagrammen, Tortendiagrammen und Liniendiagrammen, die in den Konferenzräumen der nördlichen Hemisphäre aufgehängt waren, kein bisschen ähnlich.
Auch von den Wänden im Inneren des Hauses löste sich die grüne Farbe, und der Linoleumboden war völlig abgetreten, aber jemand hatte sich bemüht, den Raum ein bisschen zu schmücken, und Plakate mit Reisezielen in Äthiopien an die Wände geklebt. Der Raum wurde von einer frei stehenden hölzernen Bar beherrscht, auf der reihenweise Flaschen mit regionalem Wein und Whiskey standen. Es war ein tej -Haus (Weinhaus) und wahrscheinlich auch noch etwas anderes. Hodes musste nicht einmal einen Blick in das Hinterzimmer werfen, um zu wissen, dass sich dort ein Bett befand.
Zwei Frauen traten in das Rechteck aus Licht, das durch die offene Tür fiel. Sie trugen Miniröcke und dünne Mieder, und ihre Haare waren geglättet und zu turmhohen Frisuren auftoupiert. Sie begrüßten den Bruder der Patientin mit einem Kuss auf die Wangen; Hodes schüttelten sie freundlich die Hand. Sie waren jung, langbeinig und mager; sie staksten auf hohen Absätzen herum; hinter Parfümschwaden und Make-up blickten große und verängstigte Augen hervor, als sie Hodes zu der Patientin führten.
Die Patientin lag auf einem zerschlissenen Sofa unter einer Ethiopian-Airlines-Decke.
Das Weltklasseunternehmen Ethiopian Airlines, das 1946 unter Haile Selassie in Zusammenarbeit mit TWA gegründet worden war, hatte oft Passagiere an Bord, die das erste Mal flogen. Manch einer von ihnen begriff die blau-türkis gestreifte Decke als wertvolles Geschenk und nahm sie mit beiden Händen und einer tiefen Verbeugung von der Stewardess in Empfang. Einige Reisende verließen dann, in die Ethiopian-Air-Decke gehüllt, in Kairo, Paris, Stockholm, Newark oder Washington das Flugzeug. Die Männer trugen sie in Stammesmanier um die Hüfte geschlungen und eine Ecke über die Schulter geworfen. Frauen wickelten sie dagegen eher um Kopf und Schultern wie ein traditionelles Tuch; einmal sah ich einen Mann, der sich auf der Toilette des Flugzeugs umgezogen hatte
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