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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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sterben wird, zu verschonen.
    Vielleicht wusste sie aber auch die ganze Zeit über Bescheid und wollte Kiber schonen. Vielleicht hat sie gerade deswegen einen Aids-Test abgelehnt - nicht weil es eine schlechte Nachricht für sie wäre, sondern weil dann Kiber und die jungen Frauen Bescheid wüssten und ihnen das ihre letzten gemeinsamen Wochen verderben würde.
     
    Als Rick Hodes bei Haregewoin eintraf, saß Dr. Julio Guerra neben ihm im Auto, ein Kinderarzt, der aus New Jersey zu Besuch war.
    »Oje«, sagten die Ärzte wie aus einem Mund, als sie sich auf den Betonboden in Haregewoins Wohnzimmer knieten, um Ababu zu begrüßen. Rick erhob sich wieder, zog sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb seinen ersten Eindruck nieder: »ausgezehrt, im Wachstum zurückgeblieben, dehydriert, sieht wirklich schlimm aus.«
    Julio schrieb in sein Notizbuch: »Deutliche Anzeichen für Muskelschwund an Brust und Armen, die auf eine chronische Malabsorption zurückgehen.«
    Vielleicht ein Aids-Baby , dachte Hodes. Aber bei kleinen Kindern kann man das ohne Aids-Test nicht sagen.
    Guerra dachte: Sieht schlimm aus, aber andere Krankheiten wie chronische Diarrhö und eine chronische Parasiteninfektion in Verbindung mit schlechter Ernährung ergeben ein ähnliches Bild.
    »Ist er auf HIV getestet worden?«, fragten die Ärzte.
    Nein.
    »Was geben Sie ihm zu essen?«
    Ababu bekam ausschließlich Kuhmilch. »Vielleicht reagiert er allergisch auf Kuhmilch«, überlegte Guerra. »Vielleicht braucht er etwas auf Sojabasis. Gibt es in Äthiopien Babynahrung auf Sojabasis?«, fragte er Haregewoin.
    Sie wusste es nicht, hatte noch nie davon gehört.
    »Ja«, sagte Hodes.
    »Es sieht so aus, als würde er verhungern«, stellten die Ärzte übereinstimmend fest.
    »Ja, das dachte ich auch schon«, sagte Haregewoin. »Der große Kopf sieht nicht nach Aids aus. Er war schon so, als er hier eintraf. Ich gebe ihm mehrmals in der Nacht etwas zu essen, und trotzdem sieht er immer noch so aus.«
    Kinder hatten sich um die Erwachsenen und Ababu versammelt, in der Hoffnung, etwas von der Aufmerksamkeit abzubekommen. Hodes wandte sich ihnen zu und ging in die Hocke, zog bereitwillig sein Stethoskop hervor und horchte alle Kinder ab. Mit ernstem Gesicht fragte er einen kleinen Jungen auf Amharisch: »Wie viele Nabel hast du?«
    »Wie viele?«, erwiderte der Junge. »Ich habe einen.«
    »Ach ja, stimmt, Äthiopier haben nur einen«, sagte Hodes und machte eine traurige Miene.
    » Ferenge sa? Wie ist das bei Weißen?«, fragte der Junge.
    »Das ändert sich von Tag zu Tag«, sagte Hodes. »Wollen mal sehen...« Er guckte in sein Hemd. »Oh! Heute habe ich dreieinhalb.«
    Die Kinder fingen an zu lachen und drängten sich näher an ihn heran, um auch etwas sehen zu können.
    »Wie viele Brustwarzen hast du?«, fragte Hodes einen anderen Jungen.
    »Zwei«, sagte der Junge. » Ferenge sa? «
    »Wir haben acht«, sagte Hodes. »Wie Hunde!« Die Kinder kreischten vor Vergnügen.
    Bevor sie gingen, zog Dr. Guerra hundert Dollar aus seiner Brieftasche und gab Haregewoin das Geld für die Sojamilch. Rick Hodes sagte, dass sie ihn testen lassen sollte.
    Am nächsten Tag kehrte er zurück und gab Ababu einen hochdosierten »Vitamincocktail« und ein Medikament zum Entwurmen. »Wenn es HIV ist, wird er bald sterben«, sagte er zu Haregewoin, »und es ist mir nicht darum zu tun, sein leidvolles Leben künstlich um eine Woche zu verlängern. Aber wenn es kein HIV ist und er einfach nur in schlechter Verfassung ist, könnten ihm diese beiden Dinge sehr helfen. Wir müssen ihn einfach lange genug am Leben halten, um herausfinden zu können, was mit ihm los ist.«

35
    Haregewoin rief ein Taxi, stieg mit Ababu auf dem Arm ein und bedeutete einem sechsjährigen Mädchen namens Kidist, sich neben sie zu setzen. Kidists Mutter war an Aids gestorben. Kidist sah Haregewoins Meinung nach zwar gesund aus, aber die beiden Ärzte hatten gemeint, sie sollte auch getestet werden.
    Bei der Aussicht auf einen Ausflug wurde Kidist ganz aufgeregt. Den Morgen über hatte sie überlegt, was sie anziehen sollte, und hatte jemanden gebeten - offenbar jemanden ihres Alters -, ihr bei ihrer Frisur zu helfen, so dass ihr jetzt fünfzehn Zöpfchen kreuz und quer vom Kopf abstanden. Sie sah aus wie eine Kinderzeichnung von der Sonne.
    Kidist kniete sich auf den Rücksitz und sah durch die Heckscheibe des Taxis auf die Straße. Was dort alles zu entdecken war, wie viele Fragen sie hatte! Wohin fuhr

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