'Alle meine Kinder'
Wesentlich für die Erfüllung der religiösen Pflicht des Krankenbesuchs ist es, den Bedürfnissen des Leidenden Aufmerksamkeit zu schenken, zu sehen, was für sein Wohlergehen getan werden kann, ihn zu unterhalten und um Gnade für ihn zu beten.
»Danke«, sagte er höflich. »Ich werde jetzt kurz mit Ihrem Bruder sprechen.« Gelilas junge Freundinnen halfen ihr, den Bademantel wieder anzuziehen.
Als Hodes aus der Tür trat, schoss Kiber vor und schüttelte erneut seine Hand, konnte sein Lächeln nicht unterdrücken. »Ja, Doktor?«, fragte er voller Hoffnung. Er hatte einen richtigen Arzt zu seiner Schwester gelockt. Nun würde ihr Schicksal eine Wendung zum Besseren nehmen.
»Ohne weitere Tests kann ich nicht feststellen, wo das Problem liegt, Kiber. Aber sie sieht nicht gut aus. Ich will es so zusammenfassen: Sie ist inkontinent, sie ist schwach, sie hat mit ihrer linken Seite ein Problem. Das kann von einer Lebererkrankung herrühren. Vielleicht hat sie auch eine Harnwegsinfektion. Ich möchte wissen, ob sie eine Anämie hat und wie das Blutbild aussieht. Ich möchte ein paar Leber-, Nieren- und Bluttests machen lassen. Eine Röntgenaufnahme des Brustraums wäre auch gut.«
Kiber nickte und lächelte fortwährend.
Hier in Äthiopien bleiben viele Dinge ungesagt , das wusste Hodes.
»Es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit«, fuhr Hodes fort, »und die heißt Aids. Wenn Sie wollen, dass im Rahmen der Blutuntersuchungen auch ein Aids-Test gemacht wird, dann müssen Sie das nur sagen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
Kibers Lächeln gefror bei der Erwähnung von Aids, aber er riss sich gleich wieder zusammen und sagte: »Nein, Doktor, danke.«
Hodes schrieb ein Rezept für die Tests.
»Ich werde das Geld für die Tests auftreiben, Herr Doktor«, versprach Kiber. »Wir haben einen Cousin in Amerika.«
»Zeigen Sie mir die Ergebnisse, sobald sie vorliegen.«
Hodes ging in das kleine Haus zurück, um sich von Gelila zu verabschieden.
Ich bin machtlos hier , dachte er. Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Ich wünschte, ich könnte ihr Leben retten. In Amerika könnten wir über Behandlungsmöglichkeiten sprechen. Hier gibt es keine »Behandlungsmöglichkeiten«. In drei, vier Monaten wird sie tot sein.
»Ihr Bruder weiß, was zu tun ist«, sagte er zu Gelila und schüttelte zum Abschied ihre kraftlose Hand.
Der Talmud sagt: Wer einen Kranken besucht, soll so mit ihm sprechen, dass er ihn weder in falscher Hoffnung wiegt noch in Verzweiflung stürzt.
»Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich werde einige medizinische Untersuchungen veranlassen. Dann sprechen wir uns wieder. Ich wünsche Ihnen gute Besserung.«
Dann rief Hodes Haregewoin zurück und versprach, so bald wie möglich zu kommen, um sich einen kleinen Jungen namens Ababu anzusehen.
Eine Woche später klopfte Kiber an der Tür zu Hodes’ Praxis. Er hatte die Testergebnisse dabei. Hodes war beeindruckt, dass die drei jungen Leute seine Anweisungen genauestens befolgt und Gelila sofort ins Krankenhaus gebracht hatten. Er hoffte, dass die Tests auf eine vor Ort behandelbare Ursache ihres schlechten Gesundheitszustand schließen lassen würden, aber er wusste, dass das unwahrscheinlich war. Er trat ins Freie und hielt Gelilas Röntgenbild gegen die Sonne. Es zeigte keine Auffälligkeiten. Im Urin fanden sich Hinweise auf eine Infektion, das Blut ließ auf eine leichte Anämie schließen, die Nieren und die Leber waren in Ordnung.
»Wie steht es mit dem Aids-Test, haben Sie den auch vornehmen lassen?«, fragte er beiläufig.
»Nein.«
»Gut«, sagte Hodes, »holen Sie dieses Rezept hier ab und sehen Sie, ob es ihr hilft, die alte Flasche können Sie wegwerfen.«
Das ist eine reine Palliativbehandlung , dachte er.
»Kiber«, rief er den im Gehen begriffenen jungen Mann zurück. »Es wäre auf jeden Fall gut, wenn ein Aids-Test gemacht würde. Wenn er negativ ist, könnten wir intensiv nach einer behandelbaren Krankheit suchen. Wenn er positiv ist...« Er beendete den Satz nicht.
»Ich werde versuchen, sie zu überzeugen, Herr Doktor.« »Wenn das Ergebnis negativ sein sollte, rufen Sie mich sofort an.«
»Danke, Abi .« Kiber legte die Hände zusammen, verbeugte sich rasch und eilte davon.
Hodes hörte nie mehr etwas von Kiber.
Das Ergebnis muss positiv gewesen sein , dachte er.
Vielleicht hat Kiber nicht einmal seiner Schwester etwas von dem Ergebnis gesagt, um sie vor der traurigen Wahrheit, dass sie bald
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