'Alle meine Kinder'
und nun nichts mehr außer der Ethiopian-Air-Decke trug, die ihm wie der gegürtete Umhang eines Hirten bis zu den Knien hing. Andere verknoten die Ecken der Decke unter dem Kinn, so dass sie wie ein Cape hinter ihnen herwehte, wenn sie durch fremde Flughäfen eilten. Die Äthiopier empfanden berechtigten Stolz auf Ethiopian Airlines; in armen und ländlichen Gebieten war es ein Statussymbol, mit dem Flugzeug gereist zu sein, und die gestreifte Decke war ein hochgeschätztes Souvenir. Es zeigte, dass eine Familie jemanden kannte, der jemanden kannte, der schon einmal geflogen war.
Die Patientin lag so schmal und flach da, dass sie fast unter der Decke verschwand. Hodes zog sich einen Stuhl heran und schlug vorsichtig die Decke zurück. Die Kranke trug einen Baumwollbademantel. Sie roch nach Urin und Schweiß. Mit ihren dreißig Jahren war sie mehr als zehn Jahre älter als die beiden Mädchen im Zimmer.
Hodes erfasste die Situation sofort. Das ist eine an Aids erkrankte Prostituierte. Ohne antiretrovirale Medikamente kann ich nicht viel für sie tun. Vielleicht finde ich eine andere Ursache, etwas, das ich behandeln kann, aber das bezweifle ich.
Dennoch bereute er nicht, gekommen zu sein.
In der jüdischen Tradition , dachte er, heißt es, dass jeder Besucher dem Leidenden ein Sechzigstel der Krankheit nimmt .
Hodes nahm die Hand der Frau, schüttelte sie und sagte: » Tena yesteling. « (Möge Gott dir Gesundheit schenken)
Ohne zu lächeln, antwortete sie flüsternd: » Tena yesteling .«
»Bis vor ein paar Monaten ging es ihr gut«, erklärte eine der jungen Frauen. »Dann wurde sie immer schwächer und konnte nicht mehr aufstehen. Wir brachten sie hierher, damit sie nicht allein ist. Sie kann ihren Urin nicht mehr halten, außerdem riecht er unangenehm.«
Der Kranken, sie hieß Gelila, ging es so schlecht, dass sie keinerlei Scham mehr empfand. Sie blickte Hodes direkt ins Gesicht. Sie wartete darauf, dass er etwas tat.
»Wir haben Medizin für sie«, sagte das Mädchen und lief los, um eine alte Flasche Bactrim zu holen, die sie ihm zeigte. »Die Medizin hat ihr ein bisschen geholfen, aber dann wurde sie wieder schwächer, und jetzt kann sie nicht mehr gehen.«
Hodes mochte sich gar nicht vorstellen, welche Hoffnung die drei empfunden haben mussten, als die Mädchen mit Medizin für Gelila nach Hause gekommen waren. Er vermutete, dass sie durch den Verlust ihrer Eltern, durch Armut und Hunger in die Prostitution getrieben worden waren; sie hatten hier unerwarteterweise Wärme und Halt gefunden. Diese Frau war eine Mutter für sie geworden.
»Woher haben Sie die Medizin?«
»Wir haben sie auf dem Mercato gekauft. War das richtig?«
Sie war nicht im Kühlschrank aufbewahrt worden und schon abgelaufen. »Ja, das war gut.«
Die Mädchen tauschten zufriedene Blicke aus.
»Ist eine Seite schwächer als die andere?«, fragte Hodes die Patientin zuerst auf Englisch, dann auf Amharisch.
»Sie sind sehr klug, Doktor«, sagte die gesprächigere der beiden jungen Frauen. »Es stimmt doch, Gelila, oder?«
Gelila nickte und deutete auf ihre schwächere linke Seite.
»Ist das plötzlich passiert oder nach und nach gekommen?«
»Plötzlich«, sagte die junge Frau, »und es ist schon wieder ein bisschen besser geworden.«
Es könnte eine Raumforderung im Gehirn oder eine Infektion sein , dachte er; dass es nicht fortschreitet, ist ein gutes Zeichen. Aber sie sieht schrecklich aus. Sie wird kaum mehr auf die Beine kommen.
Medizinisch kann ich nichts für sie tun, aber ich werde sie untersuchen und wenn auch nur, um den Zauber des »Handauflegens« auf sie wirken zu lassen. Ich werde ihr nicht die Hoffnung vorenthalten, die mit einer Untersuchung verbunden ist.
Er erkundigte sich nach Fieber, Husten, Veränderungen des mentalen Zustands.
»Würden Sie ihr bitte helfen, sich auszuziehen?«, bat er die jungen Frauen. Kiber, der jüngere Bruder, verließ das Zimmer. Hodes sah zu, wie sich die Frau unter Schmerzen aus dem Bademantel kämpfte. Gelila war nur noch Haut und Knochen und völlig kraftlos. Vor ein, zwei Jahren musste sie sehr schön gewesen sein; aber jetzt standen ihre großen braunen Augen weit aus dem eingefallenen Gesicht hervor, das zusammenzuschrumpfen schien; selbst ihr Haaransatz wich zurück. Hodes half ihr, sich aufzusetzen; er prüfte ihre Reflexe, tastete ihren Bauch ab und untersuchte die Gesichtsnerven, dann stützte er sie, als sie sich zurücksinken ließ.
Der Talmud sagt:
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