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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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zwischen ihren Augenbrauen bedeuteten etwas anderes - Vorsicht.
    Ihre Lebensgeschichte war nicht schön, und so wandte sie sich bei jeder Störung lächelnd von mir ab, froh, dass ihr Bericht unterbrochen wurde. Das Handy klingelte oder das Festnetztelefon, oder eine Bürokraft kam herein und bat sie um eine Unterschrift unter einen Brief, oder ein Besucher wollte mit ihr reden. Allen (nur nicht mir) wandte sie sich mit einem freundlichen, rosigen, lächelnden Gesicht zu. Wenn Haregewoin sich wieder zu mir drehte, zuckte sie die Schultern mit einem hilflosen Lächeln, das zu sagen schien: Sehen Sie? Es ist schier unmöglich, Zeit zum Erzählen dieser nutzlosen Geschichte zu finden, die sowieso nur aus längst vergangenem Zeug besteht und niemanden mehr interessiert.
    Als sie sich in ein längeres Telefongespräch in rasend schnellem Amharisch verwickeln ließ, das es erforderlich machte, sich dauernd vor- und zurückzubeugen, sich auf die Brust zu schlagen und in heiseres Gelächter auszubrechen, setzte ich meine Mokkatasse ab und trat ins Freie. In der frischen Morgenluft schien das klare Licht des Hochlandes förmlich zu glitzern. Kinder sprangen auf der blanken Erde im Hof herum. Mein Blick fiel auf ein fröhliches kleines Mädchen: Sie stolzierte barfuß in grauen Turnhosen unter einem rosa Rüschenkleidchen herum, und über dem Kleid trug sie einen zu kleinen Jungen-Wintermantel. Ich beobachtete, wie sie sich auf einen flachen Stein setzte und wie eine Prinzessin den Rüschenrock um sich herum ausbreitete. Sie war offenbar sehr stolz auf ihren Besitz und gab sich, behindert von dem engen Mäntelchen, alle Mühe, den starren Tüll zu glätten. Dann blickte sie sich um, um zu sehen, ob irgendjemand bemerkte, wie hübsch sie an diesem Tag war.
    Ich bemerkte es. Ich trat zu ihr und strich ihr über den warmen kleinen Kopf, die steifen, trockenen Zöpfchen und murmelte ein unverständliches Kompliment auf Englisch. Erst zuckte sie zusammen, aber dann verstand sie, und ihre Lippen verzogen sich zu einem erfreuten, verlegenen Lächeln.
    Ich hatte keine Ahnung, wer sich um das kleine Mädchen in Rosa kümmerte - vielleicht die Großeltern, vielleicht ein nur um weniges älteres Geschwister -, aber es war klar, dass sie sich erinnerte, wie es war, eine Mutter zu haben. Ein Kind, das schon lange Waise war, erwartete nicht, dass ihm jemand ein Kompliment für sein hübsches Kleid machte.
    Haregewoin kam zu mir heraus. »Sprechen wir«, sagte sie.
     
    Zwei ältere Frauen hatten ihren Weg in das Wohnzimmer gefunden und verbeugten sich, ohne sich von ihren Stühlen zu erheben, vor mir, als ich wieder in das Zimmer trat. In ihrer Gegenwart würde sie sicherlich keine Geheimnisse ausbreiten. Wir würden mit den glücklicheren Momenten ihres Lebens beginnen.
    Sie war das älteste Kind (etwa 1946 geboren) von Teferra Woldmariam, Bezirksrichter in dem Dorf Yirgalem. (In Äthiopien erhält man den Vornamen des Vaters zum Nachnamen: Woldmariams Sohn Teferra ist Teferra Woldmariam; Teferra Woldmariams Tochter Haregewoin ist Haregewoin Teferra. Frauen behalten nach der Hochzeit ihren Namen.)
    Der Richter und seine erste Frau hatten zwei Töchter, Haregewoin war die ältere; nach der Scheidung heiratete der Richter erneut, und seine zweite Frau brachte achtzehn Kinder zur Welt. Haregewoin lebte bei ihrem Vater und der Stiefmutter. »Jedes Jahr kam ein Kind, manchmal auch Zwillinge«, sagte sie lachend. Haregewoin war ein sehr kleines, sehr herrisches Kind. Sie trug ihr Haar zu zwei langen Zöpfen geflochten und stand mit in die Hüften gestemmten Armen und skeptisch zur Seite geneigtem Kopf da, während sie sich irgendwelche Beschuldigungen, Bitten, Klagen und Ausreden von ihren jüngeren Geschwistern anhörte - und dann verwarf. Der Richter führte mit der gleichen nachsichtigen Befremdung den Vorsitz in Zivil- und Strafrechtsprozessen im einzigen modernen Gebäude des Städtchens.
    »Ich habe immer gelacht«, erzählte mir Haregewoin. »Ich war ein sehr glückliches Mädchen. Mein Vater war zutiefst davon überzeugt, dass Mädchen eine Schulausbildung brauchten: Er wollte, dass ich für mich selbst sorgen konnte. Er bestand darauf, dass ich mich auf den Hosenboden setzte und lernte, aber ich hatte keine Geduld, ich wäre am liebsten immer aufgesprungen.«
    Als Jugendliche wurde Haregewoin in eine weiterführende Schule in die Hauptstadt geschickt, wo sie bei einem Onkel und einer Tante wohnte. 1965, sie war neunzehn Jahre alt, traf

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