'Alle meine Kinder'
sie auf der Hochzeit einer Freundin einen Mann wieder, der an ihrer Grundschule unterrichtet hatte. Worku Kebede war der Bruder des Bräutigams.
»Er war zwar nicht mein Lehrer gewesen, aber ich erinnerte mich an ihn«, sagte sie. »Mittlerweile trug er einen Schnurrbart. Er rauchte Zigaretten.« Der neunundzwanzigjährige Worku war groß gewachsen, ruhig und ernst, ein Biologielehrer mit einem Abschluss von der Universität Alemaye im äthiopischen Harar. Haregewoin dagegen war ein Flattergeist. Das ernste Gesicht von Worku wurde von einem überraschten Lächeln erhellt, als sie auf ihn zutrat und ihm mit dem Zeigefinger drohte und ihn beschuldigte, sich nicht an sie zu erinnern.
»Ich war so naiv«, sagte sie. »Er lachte mich aus.«
Es blieb nicht beim Lachen. »Er schickte Leute zu meinem Vater, die ihm erklärten, dass er mich heiraten wolle. Aber mein Vater lehnte ab. ›Er ist ein Lehrer. Dem kann ich meine Tochter nicht geben.‹ Zu mir sagte er: ›Ein Lehrer wird niemals ein Ehemann sein. Er wird immer wie ein Vater sein, noch mehr als ich.‹
Dann wandte sich ein Freund von Workus Vater an meinen Vater und stellte ihm Workus Familie vor. Mein Vater brauchte zwei Monate, um zu einer Entscheidung zu gelangen, aber schließlich erklärte er sich einverstanden.« 1966 heirateten die beiden, sie war zwanzig, er dreißig Jahre alt. »Wir heirateten in einer Kirche, es war eine wunderschöne Hochzeit; ich trug ein weißes Hochzeitskleid im westlichen Stil. Er hatte einen schwarzen Anzug und eine weiße Krawatte an. Abends gab es Musik, und es wurde getanzt.«
Sie mieteten in Addis Abeba ein modernes, einstöckiges Haus in der Nähe einer belebten Straße mit Kleidergeschäften, Bäckereien und Friseurläden. 1967, im ersten Jahr der Ehe, brachte Haregewoin eine Tochter zur Welt, Atetegeb. Zwei Jahre später wurde Suzanna geboren. Als die Mädchen in die Schule kamen, nahm Haregewoin eine Stelle als Sekretärin im Verkehrsministerium an. Später wechselte sie auf eine bessere Stelle in der Verwaltung der Universität von Addis Abeba und dann zur Burroughs Computer Company, einem amerikanischen Unternehmen. Worku wurde zum Rektor der Highschool ernannt. »Wir waren sehr glücklich miteinander«, sagte sie. »Wir lasen beide gerne, hatten dasselbe Hobby. Ich mochte die Romane von Danielle Steel. Er liebte Biographien und Geschichtsbücher. Wir haben uns zusammen immer wohl gefühlt.«
Worku liebte Bücher und ging sorgsam mit denen um, die er zu seinem Besitz zählen durfte, fasste sie nur mit sauberen Händen an und blätterte die Seiten mit den Fingerspitzen um. Atetegeb trat schon früh in die Fußstapfen des Vaters und war glücklich und zufrieden, wenn sie auf einem Stuhl neben seinem Schreibtisch sitzen und beim Licht seiner Lampe lesen durfte. Worku brachte ihr Bücher aus der Schule mit, und dann saß sie mit ernstem Gesicht da und strich gedankenverloren über die Bilder von Dinosauriern, Planeten und Walen.
Suzie dagegen hatte das überschäumende Temperament ihrer Mutter geerbt, sie war leicht zum Lachen zu bringen und saß kaum jemals still; schon war sie zur Tür hinaus, um sich zu ihren Freunden zu gesellen, und rief Atetegeb zu, sie solle mitkommen, aber die Schwester - mit einem schmalen, hübschen Gesicht, lockigen, schulterlangen Haaren und von Natur aus dunkel umrahmten Augen - lehnte dankend ab, ohne auch nur den Blick von der Seite zu heben. Als die Mädchen älter wurden, regte sich Haregewoin zunehmend darüber auf - »Du bist doch ein so hübsches Mädchen!«, erklärte sie Atetegeb immer wieder -, Worku nahm seine Tochter jedoch in Schutz und sagte auf Amharisch: » Teyat. « (»Lass das Kind in Ruhe.«)
4
In den Schulferien tankte Worku den Opel der Familie voll, Haregewoin packte einen Korb mit Obst, Linseneintopf, Maisbrei, injera (das landestypische Brot, ein schwammartiger Pfannkuchen aus gesäuertem Teig) und Flaschen mit Wasser, und die vier fuhren hinaus aufs Land.
Sie verließen Addis in Richtung Süden nach Debre Zeyit und fuhren den Abessinischen Graben an der Seenkette entlang. Am Ufer der platinblauen Kraterseen gab es Kuckucke und Pirole, Bienenfresser und Schwalben zu sehen. Mehr als 800 Vogelarten hat man bislang in Äthiopien gefunden, darunter 14 endemische Arten. 22
Die Familie kutschierte durch das sonnenüberflutete Grasland der Savanne. Neben den mit Teff bebauten Feldern, dem landestypischen Getreide, konnten die vier einen Blick auf Familien erhaschen,
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