'Alle meine Kinder'
führten. Die neue italienische Regierung erkannte die Unabhängigkeit Äthiopiens an.
»Die Schlacht von Adowa [sic] war zur damaligen Zeit die schlimmste Niederlage, die seit Hannibal einer europäischen Armee durch eine afrikanische Armee zugefügt worden war«, schreibt Greg Blake in Military History , »und ihre Folgen waren noch bis ins 20. Jahrhundert deutlich zu spüren. Als Beispiel eines Kolonialkrieges epischen Ausmaßes ist sie wohl kaum zu übertreffen. Vor allem aber sollte sie als Beispiel für die zwei Torheiten der Arroganz und Fehleinschätzung des Feindes nie vergessen werden.« 28
Die äthiopische Schrift und das äthiopische Alphabet, die äthiopische Kirche, der äthiopische Kalender, Ge’ez (die erste Schriftsprache Afrikas 29 ) und die äthiopische Literatur, die illuminierten Ge’ez-Bibeln, die äthiopischen Feiertage und die landestypischen Formen in Architektur, Malerei, mündlicher Dichtung, Tanz und Wandteppichen überdauerten unverändert, einzigartig auf dieser Welt.
Und die schönen, schlanken, stolzen Äthiopier wissen auch das.
Was zeichnet all diese Dinge aus, jene seltenen Kulturgüter Äthiopiens? Vielleicht gibt die Tatsache, dass Äthiopien der Welt den Kaffee schenkte, darüber Aufschluss. Die Kaffeebohnen wurden das erste Mal in den Wäldern von Kaffa geerntet.
Wie viele Jahrtausende saßen die Abessinier dort oben auf dem Felsplateau, diskutierten in ihren Kaffeehäusern über Literatur, während gleichzeitig im barbarischen Europa weniger weit entwickelte Exemplare des Homo sapiens sich gegenseitig mit Steinen erschlugen, auf Streitrössern herumritten und Speere aufeinander schleuderten? Wie viele tausend Jahre haben die scharfsinnigen Äthiopier die Quelle des Nil und den Aufbewahrungsort der Bundeslade gekannt und darüber in ihrer blumigen Sprache, die kein Außenstehender lesen oder verstehen konnte, gesprochen und geschrieben?
Immer wenn sie sich einer Kleinstadt oder einem Dorf näherten, verlangsamte Worku das Tempo. Zu beiden Seiten der Straße waren Tischtennistische aufgebaut. Männer spielten, und Kinder sahen zu. Jungen spielten Fußball mit Bällen, die sie aus Plastiktüten und Schnüren gebastelt hatten. Händler standen am Straßenrand und boten frische Kaffeebohnen, Mangos, Kürbisse und Eier feil, die sie auf Baumwolltüchern auf der bloßen Erde ausgebreitet hatten. Bienenzüchter verkauften frischen Honig aus ausgewaschenen Plastikbehältnissen, die an Stangen hingen. All das zog an der Familie vorbei, während sie über die Straße holperten, die Fenster heruntergekurbelt, Haregewoin und Suzie auf den heißen kunststoffbezogenen Sitzen vor sich hin dösend, Atetegeb mit einem Buch auf der Rückbank.
In den kleinen Städten kamen barfüßige Kinder angelaufen, die Sandalen verkauften, Seifenstücke, Nester mit Eiern, Äste, die voller Nüsse hingen, oder bunte Körbe. Diejenigen, die nichts zu verkaufen hatten, fragten, ob sie die Fliegen von der Windschutzscheibe putzen dürften. Die staubbedeckten Dorfmädchen hatten sich die Haare mit Stofffetzen hochgebunden, die Haut fast schwarz von der stechenden Sonne. In bunt gestrichenen Holzhäusern untergebrachte Gästezimmer und Wellblechläden verliehen den Dörfern ein farbiges Gesicht, und schon von fern konnte man den Duft des frischen, hier angebauten Kaffees und der Fleischeintöpfe riechen. Die Familie aus der Stadt hielt an einem Café mit einer von Bäumen beschatteten Terrasse, wo sie Coca-Cola bestellten und sich im gefliesten Waschraum Wasser ins Gesicht spritzten. Sie setzten sich unter einen Schirm und sahen zu, wie die Dorfjungen auf ihren Eselskarren waghalsig die Hauptstraße hinunterkurvten. Die acht- oder zehnjährigen Jungen standen auf den Gefährten, ließen ihre Peitsche durch die Luft sausen und preschten wild schreiend über die Straße. Andere ritten auf ungesattelten Eseln durch den Staub und scheuchten Ziegen, Hühner und Fußgänger aus dem Weg. Atetegeb und Suzie lachten über die aberwitzige Parade der Jungen, Karren und Tiere; die beiden waren ein wenig neidisch auf das ausgelassene Leben der Kinder auf dem Land, wie es auch ihre Mutter erfahren haben musste und das sie beide nicht kannten.
Eine Zeit lang hatte Haregewoin sich Gedanken gemacht, weil sie und Worku nur zwei Kinder hatten. Sie war davon ausgegangen, dass sie zehn oder 15 Kinder großziehen würden. Das machte man so, dachte sie. Aber Worku genoss den Frieden und die Ruhe. Ihm genügte schon das
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