'Alle meine Kinder'
Durcheinander, das die zwei Mädchen anrichteten. Sie überlegte: Würden zwei Kinder überhaupt für sie sorgen können? Aber die erste Zeit mit den Kindern war nicht leicht gewesen - Suzie war als Säugling oft krank -, und so gab Haregewoin nach: »Zwei reichen.« Ihre Besorgnis rührte sicherlich von ihrer Herkunft vom Land her, wo die Säuglings- und Kindersterblichkeit hoch war. Zwei Kinder in der Stadt zu modernen, gebildeten Menschen großzuziehen hatte vieles für sich: Musikunterricht, Ferien und Geburtstagsfeste. Das bürgerliche Leben in der Stadt versprach Gesundheit und Sicherheit. Das Glück ihrer kleinen Familie würde gewiss immer anhalten.
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Worku und Haregewoin wussten, dass hinter dieser ländlichen Idylle eine hässlichere Wirklichkeit lag. Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts erlebte Äthiopien eine Palastrevolte, die in Korruption und Totschlag enden sollte.
Kaiser Haile Selassie, der »Löwe von Juda«, hatte während ihres ganzen Lebens und des Lebens ihrer Eltern über Äthiopien geherrscht. 30 Noch als er alt war und zunehmend verwirrter wurde, machte der König der Könige für die künftige Führung des Landes keine Pläne, die über seine eigene Langlebigkeit hinausgingen. Die göttliche Aura, mit der er sich umgab, schien von seiner Unsterblichkeit zu zeugen.
Selassie, der 1892 als Tafari Makonnen zur Welt gekommen war, hatte es durch Beziehungen, Heiratspolitik und Staatskunst 1913 zum Titel des ras (Herzog) von Harar gebracht. 1930 wurde er zum 111. Kaiser in der Nachfolge von König Salomon gekrönt und nahm den Herrschernamen Haile Selassie I. (»Macht der Dreifaltigkeit«) an. Selassie gab sogleich die erste Verfassung Äthiopiens in Auftrag, die die Heiligkeit seiner Person festschrieb sowie sein Geburtsrecht auf den legendären Thron von Menelik I., dem nahezu mythischen Sohn der Königin von Saba und des Königs Salomon von Israel. Selassie war ein klein gewachsener Mann mit leiser Stimme, traurigen Augen und einem sorgfältig gestutzten Vollbart; es heißt, er habe eigens einen Kissenträger gehabt, der stets, wenn sich sein sehr klein geratener Herr setzen wollte, zu ihm eilte, um ihm ein Satinkissen unter die Füße zu schieben, damit seine Beine nicht wie die eines Kindes in der Luft baumelten. Aber auf der Weltbühne bewegte er sich wie ein Riese. Er war eine Integrationsfigur Afrikas und ein herausragender Staatsmann, rauschte mit seiner Entourage durch die Hauptstädte Europas und galt in der ganzen afrikanischen Diaspora als Held. Bald nach seiner Krönung begann ihn eine jamaikanische Sekte als Gott zu verehren; sie nannten sich Rastafaris nach seinem früheren Titel Ras Tafari.
Haile Selassie, ein eleganter und eloquenter Mann, repräsentierte Äthiopien. Zu Hause gab er sich als liebender Vater seiner Untergebenen. Er war der einzige freie schwarze afrikanische Monarch überhaupt.
Wie seit alters her machte seine Lage am Roten Meer Äthiopien zu einem wertvollen Stück Land, insbesondere nachdem 1869 der Suezkanal eingeweiht worden war. In der Moderne wurde das Kaiserreich mit den Territorialplänen eines industrialisierten Europa konfrontiert. Selassie und sein Vorgänger Kaiser Menelik II. sahen sich von allen Seiten von britischen, französischen und italienischen Kolonien umschlossen und den Einflüssen und expansionistischen Bestrebungen von deren Mutterländern ausgesetzt.
Zwar hatte Kaiser Menelik II. 1896 den Italienern in der Schlacht von Adwa eine schmachvolle Niederlage bereitet, aber Italien sollte im folgenden Jahrhundert zurückkehren. Am 3. Oktober 1935 fiel das faschistische Italien in dem von Selassie beherrschten Äthiopien ein, ohne ihm vorher den Krieg erklärt zu haben. Die Italiener waren entschlossen, sich nicht noch einmal demütigen zu lassen; sie fügten den Äthiopiern mithilfe ihrer überlegenen Waffentechnik und chemischer Kampfstoffe empfindliche Verluste zu und standen nach sieben Monaten vor den Toren von Addis Abeba.
Der Kaiser reiste nach Genf, trat vor den Völkerbund und verlangte Gerechtigkeit von der Weltgemeinschaft. Noch nie hatte ein afrikanischer Monarch sein Land vor dieser hohen Kammer vertreten, von wo aus während des »Gerangels um Afrika« 31 koloniale Feldzüge beschlossen worden waren. Er protestierte »gegen den ungleichen Kampf zwischen einem Staat mit mehr als 42 Millionen Einwohnern, der über die finanziellen, industriellen und technischen Mittel verfügt, um todbringende Waffen in unbeschränkter
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