'Alle meine Kinder'
nannte. Er forderte die Bürger auf, alle verdächtigen Aktivitäten den neu eingerichteten kebeles zu melden; er bewaffnete Beamte nachgeordneter Verwaltungsebenen, die dem Derg treu ergeben waren, und ermächtigte sie, Verräter hinrichten zu lassen. Tatsächliche und vermeintliche Widersacher Mengistus (insbesondere Intellektuelle, Studenten und Lehrer) wurden zu Hunderttausenden hingerichtet - manche von den eigenen Nachbarn.
Unter Mengistu wurde Äthiopien zu einem weiteren Schlachtfeld im Kalten Krieg.
Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten stützten rassistische und repressive Regimes in Angola, Mosambik und Rhodesien (Südrhodesien ist das heutige Simbabwe und Nordrhodesien Sambia) und förderten raffgierige Diktatoren wie Joseph Mobutu in Zaire (die heutige Demokratische Republik Kongo), und sie taten all das mit der Begründung, der kommunistischen Infiltration von Afrika etwas entgegensetzen zu müssen.
Im Gegenzug wurde der Kontinent mit Waffen aus der Sowjetunion überschwemmt. Als die UdSSR Somalia gegen Äthiopien den Rücken stärkte, rüsteten die Vereinigten Staaten Äthiopien auf; als 1977 der Ogadenkrieg ausbrach, bewaffnete die UdSSR Äthiopien, und die Vereinigten Staaten unterstützten die somalischen Invasoren.
Aus der Sowjetunion flossen zehn Milliarden Dollar, zum Teil in Form von Waffenlieferungen, nach Äthiopien, bis selbst Michail Gorbatschow genug von Mengistu hatte und sich von ihm abwandte. In den letzten Jahren des Militärregimes betrug der Verteidigungshaushalt fast eine Milliarde Dollar jährlich beziehungsweise 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Äthiopien hatte mehr als genug Panzer, Gewehre, Artillerie, Geschütze, Granaten und Raketen, um jeden Mann, jede Frau, jedes Kind und jede einzelne Kuh auszurüsten, aber Millionen litten tagein, tagaus Hunger.
Und parallel dazu nahm im Verborgenen eine ebenso grausame Wirklichkeit Gestalt an, die schließlich mehr Menschen umbringen und Mengistu lange überleben sollte.
Eine, die Worku und Haregewoin nicht kommen sehen konnten.
Sie hatte noch keinen Namen in Äthiopien.
Ungefähr zwischen 1975 und 1980 begann sich - nicht nur in Äthiopien, sondern auch in Uganda und Ruanda und dem Kongo, an den Ufern des Viktoriasees und des Kongoflusses - eine hochansteckende, kräftezehrende und tödliche Krankheit auszubreiten. 37 Es war ein Virus (d. h., der Organismus kann sich nicht unabhängig reproduzieren - er dringt in die menschliche Zelle ein und programmiert sie so um, dass sie die Replikation des Virus übernimmt). Es war ein Retrovirus (d. h., sein Genom besteht aus zwei RNS- statt DNS-Molekülen; in jeder Wirtszelle schreibt ein Enzym das Virusgenom zur DNS um - Reverse Transkriptase -, um so das Genom des Wirts zu infiltrieren). Und es war ein Lentivirus, ein langsames Virus, das heißt, es dauert lange, bis sich krankmachende Reaktionen im Körper entwickelten. 38
Jedes Viruspartikel hat einen Durchmesser von einem Zehntausendstel Millimeter. Unter dem Mikroskop sehen sie wie Plastikbälle mit Saugnäpfen aus, die Art, die haften bleibt, wenn man sie gegen eine Wand oder ein Fenster wirft. Diese Bälle sind, ähnlich Wasserbomben, mit einer Flüssigkeit gefüllt. Enzyme bilden in der zähen Flüssigkeit ein Tupfenmuster, und mittendrin schwebt noch etwas Größeres: ein Keil mit weichen Kanten (ähnlich einem Stück Pizza, das unter Wasser treibt). In dem durchsichtigen Keil wiederum schwimmen zwei Stränge Genmaterial. Also: RNS-Stränge innerhalb des Keils innerhalb des Saugnapfballs. Ein HIV-Partikelhaufen sieht aus wie Froschlaich.
Ein HIV-Partikel dockt an ein größeres menschliches weißes Blutkörperchen (die CD4 oder T-Helferzelle) an und verschmilzt seine Membran mit der der menschlichen Zelle. Sein Genmaterial dringt in den Zellkern des eroberten weißen Blutkörperchens und zwingt es, HIV-Partikel auszustoßen. Schon allein die Bilder von diesem Vorgang sehen unheimlich aus: die unschuldige T-Helferzelle durch den Parasiten verformt; der Marsch der kleinen HIV-Partikel - von denen jedes einen dieser Keile enthält - durch die Zellmembranen und hinaus in den Blutkreislauf.
Ungefähr die Hälfte der HIV-Infizierten leiden in den ersten zwei bis vier Wochen nach der Infektion unter grippeähnlichen Symptomen - Fieber, Müdigkeit, Ausschlag, Gelenkschmerzen, Kopfweh und geschwollene Lymphknoten -, und dann zieht sich die Krankheit zurück, manchmal für Jahre.
»Magerkrankheit« wurde sie anfänglich
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