'Alle meine Kinder'
Haregewoin mit ihren Kollegen und lächelte, aber das geschah ganz mechanisch; ihre Augen und ihre Stimme hatten etwas Lebloses. Abends, wenn Suzie ausging, zog sich Atetegeb in ihr Zimmer zurück, um zu lesen, schlich sich dann aber später allein davon. Haregewoin überließ sich ihrer Trauer. Sie ging nachts ins Bett und saß dann da und starrte die gegenüberliegende Wand an, wie betäubt.
Wenn jemand Worku erschossen hätte , dachte sie , dann würde das mehr Sinn ergeben als das hier.
7
»Mutter, ich habe jemanden kennengelernt«, erklärte Atetegeb Haregewoin schließlich, obwohl ihre Mutter bereits Bescheid wusste, einschließlich der Tatsache, dass der Freund der vierundzwanzigjährigen Atetegeb Mitte dreißig war.
»Das freut mich für dich, Liebes. Wann willst du ihn mir vorstellen?«
Ihr durchgesessenes Sofa ächzte an dem Abend, an dem Ashiber sich darauf fallen ließ und es sich mit weit von sich gestreckten Beinen bequem machte. Er sah sich mit missbilligender Miene in dem Zimmer um. Er trug ein Holster mit einer Pistole, und der billige schwarze Stoff seiner Uniform spannte über seinen breiten Schultern und muskulösen Oberarmen. Der Mutter fiel es schwer, hinter die Fassade des harten Kerls zu blicken. Die Waffe erweckte den Eindruck, ein eisernes Symbol der Macht habe sich in die Nähe dieses Mannes verirrt und er habe zugegriffen. Wollte er Haregewoin mit der Waffe beeindrucken? Sie war es jedenfalls nicht; was dagegen die unerfahrene Atetegeb anging, so war sie ihm bereits erlegen.
Beim Essen thronte Ashiber an ihrem kleinen Tisch mit dem bestickten Tischtuch auf Workus Stuhl und widmete sich mit Hingabe dem Essen. Er lachte selbst am lautesten über seine Bemerkungen, doch das, was die Frauen sagten, schien ihn rasch zu langweilen. Aber bei all seinem Gehabe war er kein wichtiger Mann, wie Haregewoin feststellte: Er arbeitete für den Sicherheitsdienst einer privaten Firma.
Aber was sollte eine Mutter ihrer geliebten Tochter sagen, die sich einbildete, verliebt zu sein, und das zum ersten Mal? Noch dazu einem fleißigen und hoffnungsvollen Mädchen ohne Lebenserfahrung? Vielleicht sah Atetegeb in Ashiber einen der romantischen Helden aus den Romanen ihrer Mädchenzeit. Vielleicht meinte sie etwas Freundliches und Gutes hinter der selbstgefälligen Miene zu entdecken, hinter den gewaltigen Muskeln, den geringelten Haaren, die so dick eingeölt waren, dass sie in der Sonne aussahen wie aus Metall.
Atetegebs Vater war ein gütiger Mann gewesen; natürlich wollte sie an ihrem Freund nichts Autoritäres sehen. Atetegeb wusste kaum, dass es so etwas gab, außer in Büchern.
Suzie wusste es. Haregewoins und Suzies Blicke trafen sich, als das Hausmädchen das Geschirr abräumte.
»Er... er sieht nicht übel aus«, sagte Haregewoin später zu Suzie, um eine Spur von Optimismus bemüht. »Er sieht ganz gut aus.«
»Sie ist viel zu still, wenn sie in seiner Nähe ist«, erwiderte Suzie.
In der Nacht wachte Haregewoin von einem schmerzhaften Stechen in der Seite auf, das sie irrtümlich für eine Begleiterscheinung des Kummers gehalten hatte. Dieser Schmerz quälte sie seit Monaten. Sie hatte angenommen, er rühre von Stress her und von der Angst vor der Zukunft und dass er im Lauf der Zeit von selbst wieder vergehen würde. Stattdessen überkamen sie mehrmals am Tag Krämpfe; in der Arbeit musste sie sich über ihren Schreibtisch beugen und mit den Armen abstützen, um die Schmerzen auszuhalten. Sie schob mit einer Hand Unterlagen hin und her, um es vor ihren Kollegen zu verbergen.
Während sie wach lag und vor sich hin weinte, drang fahles Licht durch die hölzernen Jalousien und zeichnete ein Streifenmuster auf ihre Bettdecke. Seit Workus Tod neigte Haregewoin zu Düsterkeit, und sie kam zu dem Schluss, dass sie Krebs hatte und sterben musste. Jetzt bin ich an der Reihe , dachte sie. Nach Workus unerwartetem Tod sagten viele Leute zu Haregewoin: »Es war Gottes Wille«, weil sie den Ausdruck unendlicher Verwirrung und Verzweiflung auf ihrem Gesicht nicht ertragen konnten. Haregewoin weinte und bedeckte ihr Gesicht mit ihrem Tuch, sie konnte keinen Sinn darin erkennen. Die Ungerechtigkeit und die Verschwendung , die sein plötzlicher Tod bedeutete, verstörten sie.
Jetzt, mitten in der Nacht, schlaflos, sich die schmerzende Seite haltend, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Das Gesundheitssystem in Äthiopien gehörte mit zu den schlechtesten auf der Welt. Weder Haile Selassie
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