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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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in Uganda genannt, weil sie die Kranken mit schrecklichen Durchfällen auszehrte. 39
    In den 1970er-Jahren, als Haregewoins Familie noch jung war, wusste kaum jemand, dass diese Krankheit wie ein Ungeheuer lauernd im Hinterhalt lag. Aber sie hatte angefangen, sich zu zeigen - eine Klaue hier, das Aufblitzen eines spitzen Zahns da.
    Sie trat anfangs auf als:
    Slim Disease (»Magerkrankheit«, auch Wasting-Syndrom genannt) in Kinshasa, Zaire (späte 1970er-Jahre)
    Slim Disease in Uganda und Tansania (frühe 1980er-Jahre)
    Kandidose der Speiseröhre in Ruanda (seit 1983)
    Aggressives Kaposi-Syndrom in Kinshasa, Zaire (Anfang der 1980er-Jahre)
    Aggressives Kaposi-Syndrom in Sambia und Uganda (seit 1982 und 1983)
    Kryptokokken-Meningitis in Kinshasa, Zaire (Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre) 40
     
    »Kennzeichnend für diese erste Phase war Schweigen«, schrieb der mittlerweile verstorbene Dr. Jonathan Mann, einer der bedeutendsten frühen AIDS-Forscher und Fürsprecher der Erkrankten. »Das menschliche Immunschwächevirus war unbekannt, und die Ansteckung wurde von keinerlei augenfälligen Anzeichen oder Symptomen begleitet... Während dieser Zeit des Schweigens konnte sich die Krankheit ungehindert ausbreiten, es gab weder ein Bewusstsein dafür noch irgendeine Prophylaxe, so dass damals möglicherweise zwischen 100 000 und 300 000 Menschen infiziert wurden.« 41 1990 waren in Äthiopien schon schätzungsweise 61000 Kinder durch AIDS zu Waisen geworden, nach Uganda und der Demokratischen Republik Kongo weltweit die dritthöchste Zahl. 42

6
    1990 klingelte bei Haregewoin eines Morgens das Telefon. Das Einzige, was sie verstand, war, dass Worku etwas zugestoßen war.
    Eine Frau schrie in den Hörer, Worku sei gerade auf einer Sitzung des kebele zusammengebrochen. Er habe eine schulische Angelegenheit vorgetragen, dann habe er wieder Platz genommen und sei einfach nach vorn gekippt. Alle seien ihm zu Hilfe geeilt. Haregewoin solle schnell - ganz schnell! - ins Krankenhaus kommen. Die Anruferin schluchzte und hängte ein.
    Haregewoin legte den Hörer auf, völlig verwirrt, dann hob sie wieder ab, um jemanden anzurufen. Aber wen sollte sie anrufen? Ach ja! Worku, sie wollte Worku anrufen, in seinem Büro in der Schule, um ihm etwas zu sagen. Sie störte ihn nicht gern während der Arbeit, aber bei einem Notfall... Moment mal... Nein. Sie begann zu zittern, zwang sich, die Autoschlüssel zu nehmen, das Haus zu verlassen, die Tür abzuschließen, den Motor anzulassen, zurückzustoßen und sich in den fließenden Verkehr einfädeln; sie sah nichts, sie atmete nicht, sie dachte nicht; sie fuhr einfach. Auf dem betonierten Parkplatz des Krankenhauses standen ein paar Leute vor einer Trage und warteten auf Haregewoin. Sie sei zu spät gekommen, sagten sie. Er sei von ihnen gegangen, er sei gerade gestorben. Sie traten von der Trage zurück, ihre Mienen sagten, dass es Worku war, der unter dem Tuch lag.
    »Ich bin gleich hergekommen«, protestierte Haregewoin, während sie auf sie zuging. »Er war überhaupt nicht krank. Er war nie krank.«
    Sie stand vor dem zugedeckten Körper, der vielleicht doch nicht der von Worku war. Vielleicht würden sie heute Abend den Kopf schütteln und über dieses furchtbare Missverständnis lachen, darüber, welchen Schrecken man ihr damit eingejagt hatte. Jemand schlug das Tuch zurück.
    »Er hatte einen Herzanfall«, sagte jemand.
    »Er hat noch nicht einmal über Kopfschmerzen geklagt«, widersprach Haregewoin.
    »Vielleicht vom Rauchen?«, fragte jemand.
    »Er war erst vierundfünfzig«, erwiderte Haregewoin, bereit, es mit jedem aufzunehmen, der ihr weismachen wollte, dass ihr Mann tot war.
    Haregewoin war auf dem Land aufgewachsen, und dort war der Tod ein Vertrauter. Der Tod ist einer der Dorfältesten. Aber hier? In der Stadt? An einem ganz gewöhnlichen Schultag? Er war doch der Rektor der Highschool! Sie hatten zwei kaum erwachsene Kinder zu Hause. (Sie hatten nur diese beiden Kinder!) Der Tod war ein Mörder. Sie musste sich von anderen Leuten nach Hause bringen lassen. Sie konnte sich nicht mehr an den Weg erinnern.
    »Er war mein Bruder, mein Mann, mein Freund; er war alles für mich«, erklärte sie jedem.
    Sie verspürte noch viele Wochen den Impuls, ihn anzurufen und ihm zu erzählen, dass etwas Schlimmes passiert war. Nachts im Bett überkam sie der Drang, mit ihm zu reden, wenn sie dachte, dass er wach neben ihr lag und nachsann. Die Beerdigungsvorbereitungen, Besucher

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