Alle meine Schuhe
konnte sie es nicht mehr ertragen, ganz allein in Amerika zu sein. Noch wenige Minuten zuvor wollte Amy nicht einmal an London denken. Jetzt hatte sie nichts anderes mehr im Sinn. Ich muss hier weg, weg von diesem Ort! Sergei? Wie konnte er nur? Wie konnte er vorgeben, mein Freund zu sein, wenn er eine Affäre mit meiner Mutter hatte, als ich noch klein war? Oder – Moment mal – die Beziehung ging womöglich über Jahre. Bis sie...
Jack suchte sie bestimmt immer noch. Vielleicht hatte er mittlerweile auch aufgegeben und das Glas jemand anderem angeboten? Wie auch immer, sie musste gehen. Ihr Brustkorb fühlte sich an wie zugeschnürt, als würde er von all den Lügen zusammengepresst. So viele Jahre hatte sie geglaubt, die perfekten Eltern, die perfekte Familie zu haben! War alles nur Schein gewesen? Amy wusste gar nichts mehr, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie musste weg, konnte aber in diesem Zustand nicht wieder ins Zelt zurückgehen.
»Nein!«, schrie sie in die Dunkelheit. »Wie konnte sie?«
Amy stand auf und stolperte über den Kies vor dem Zelt. Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper.
Es war ziemlich dunkel, in der näheren Umgebung gab es keine einzige Laterne.
Plötzlich hatte sie das Gesicht ihres Vaters vor Augen. »Dad! Dad!« Sie wusste nicht, ob sie laut schrie oder keinen einzigen Ton über die Lippen brachte.
»Hey, sind Sie okay?«
Harry hockte auf einem Poller und versuchte, eine brennende Zigarette hinter seinem Rücken zu verstecken.
»Es geht mir gut. Oh, Harry … aber dafür ist das Leben definitiv zu kurz, okay?«
»Sie weinen …«
»Nein, tue ich nicht … Autsch!«
Amy hatte nicht darauf geachtet, wohin sie ging, war mit dem Fuß auf Schlick ausgerutscht und umgeknickt. »Verdammt!«
Der plötzliche Schmerz an ihrem Fußgelenk durchbohrte sie, so dass ihr die Tränen jetzt ungehemmt über die Wangen liefen.
»Wollen Sie, dass ich Jack hole?«, fragte Harry. Er schnipste die Zigarette weg, sprang vom Poller herunter und klopfte sich die Asche vom Hemd.
Jack?
»Nein! Ist nett gemeint, aber nein danke, ich muss gehen.« Amy versuchte, mit dem schmerzenden Fuß aufzutreten. Die reinste Qual. Aber sie war schon fast an der Straße. Von dort aus könnte sie hüpfen …
Ich werde zurückfahren zu … zum Haus dieses Mannes, meine Sachen packen und so schnell wie möglich verschwinden.
Mit dem Mut der Verzweiflung wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und begann zu hüpfen. Ihre Wade brannte, alles tat ihr weh, aber Amy schaffte den ganzen Weg zurück zum Auto. Sie fand den Autoschlüssel in ihrer winzigen Handtasche und öffnete die Tür.
»Gott sei Dank hat der Wagen Automatikgetriebe!« Nachdem sie sich unter Schmerzen auf den Fahrersitz gehievt hatte, startete sie den Motor. Dann gönnte sie sich eine kurze Pause und holte ein paar Mal tief Luft, bevor sie vom Parkplatz fuhr. Sie kurbelte das Fenster herunter und rief Harry zu, der ihr beim Wegfahren nachsah: »Und bitte, bitte, lass das mit dem Rauchen, Harry, okay?«
Sie saß im dunklen Haus. Nur der Bildschirm des Laptops strahlte in einem gespenstischen blauen Licht. Kein Grund, Jes und Deb zu beunruhigen. Kein Grund, Jes und Deb zu beunruhigen. Kein Grund Jes und Deb zu beunruhigen …
Von: Amy Marsh
An: Jesminder; Debbie
Thema: Hallo aus den Staaten!
Ich lebe noch (so gerade) und verbringe eine fantastische Zeit. Es war eine – wie soll ich es ausdrücken? – Entdeckungsreise, und ich bin total geschlaucht. Hatte eben die Idee, ob ihr vielleicht mein Ticket umbuchen und mich früher nach Hause holen könntet? Ich glaube, meine Mission hier ist abgeschlossen, und außerdem vermisse ich es, Teufelsbraten genannt zu werden. Ist aclickaway.com ohne mich zusammengebrochen? Sorry, falls dem so ist. Vielleicht sollten wir stattdessen eine Sandwichbar eröffnen. Der Kürbis wird sich jedenfalls bald in einen Pantoffel verwandeln, wenn ich nicht schnellstens ein bisschen Schlaf bekomme. Also, bis bald.
Hab euch lieb, Amy -
P. S. Macht euch keine Sorgen, aber es wäre echt Spitze, wenn ihr das mit dem Flug so schnell wie möglich klären könntet -
Amy las noch einmal den Text, seufzte traurig und drückte auf Senden .
Das sollte genügen.
24. Kapitel
B ei Amys Rückkehr in New York war der Sommerhimmel dicht bewölkt und als sie an der Penn Station in der Schlange auf ein Taxi wartete, sah es so aus, als würde es bald ein Unwetter geben. Davon schien zumindest jeder New Yorker
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