Alle meine Schuhe
hätten sie unterschiedliche Farben. Für die erfahrene Schuhmacherin haben die Schuhe verschiedener Tänzerinnen keinerlei Ähnlichkeit.«
»Wirklich?«, hauchte Amy.
»Absolut. Stellen Sie sich vor, eine Katze hat sechzehn Junge. Glauben Sie nicht auch, dass sie ihre Lieblinge alle auseinanderhalten kann, auch wenn Sie und ich dazu nicht fähig wären?«
»Hm, vermutlich schon«, sagte Amy stirnrunzelnd.
»Margots Schuhe besaßen eine viel festere Zehenbox und die Fältchen an dem Schuh, den ich gestern in der Hand hielt, hätten das Blut in ihrem zweiten Zeh abgeschnürt. Er war ein bisschen zu lang, müssen Sie wissen – sie hätte überhaupt kein Gefühl darin gehabt. Außerdem war er zu schmal.«
Endlich gestattete sich Amy ein Lächeln. »Aber davon abgesehen glichen Sie sich aufs Haar?«, fragte sie mit vorgetäuschter Unschuld.
»Exakt! Eine echte Erinnerung an alte Zeiten!« Alice lächelte zurück. »Nein, dieser Schuh wurde in England angefertigt, das erkenne ich an dem Satin. Aber Margot hat ihn nie getragen.«
Sie schwiegen für eine Weile. Amy verschränkte unbeholfen die Hände, ihr Kopf war voller Fragen an Alice. Sie schämte sich dafür, aber insgeheim wusste sie, dass es nie eine bessere Gelegenheit gäbe, den Schuh zurückzubekommen. War sie nicht aus genau diesem Grund in den USA? Doch Jacks liebesvolles Bemühen, diese Schuhe zu bekommen, würde dann irgendwie schäbig aussehen.
»Der arme, liebe Jack«, murmelte Alice und sah stolz zu ihrem Enkel, der immer noch in der Schlange stand. »Er freut sich riesig, dass er es geschafft hat, ein Paar von Margots Schuhen – wie sich herausstellte, lediglich einen, aber das nur nebenbei – als Geburtstagsgeschenk für mich zu finden. So ein fürsorglicher Junge!«
Amy nagte an ihrer Unterlippe. Es war wohl kaum ihre Aufgabe, damit herauszuplatzen, dass Jack Bescheid wusste, sie beide deshalb eine Auseinandersetzung gehabt hatten und er nur Alice zuliebe nicht mit der Wahrheit herausrückte. Hatte sie sich nicht schon genug in Alices Familienangelegenheiten eingemischt? Viele Familien brauchen kleine Notlügen, winzige Täuschungen oder Geheimnisse – das wusste Amy.
Sie schaute durch den Zelteingang hinaus ins Dunkel, wo die Lichter an den Masten der Boote glitzerten. Der Anblick war atemberaubend, farbenfroh und gleichzeitig so natürlich, als wäre der nächtliche Himmel für Alices 80. Geburtstag mit Juwelen geschmückt. Sie blickte hinüber zu Jack. Stolz und Glück standen ihm ins Gesicht geschrieben.
Dann drehte er sich zu ihr um. Obwohl es nur kurz war, sagte dieser Blick alles. Es war sinnlos, es zu leugnen. Ein freudiger Schauer lief durch ihren Körper, verjagte die Zweifel. Amy wusste, dass sie Jack nie verraten würde. Niemals würde sie Alice sagen, dass er gewusst hatte, dass es nicht Margots Schuhe waren. Und umgekehrt würde sie auch Jack nie erzählen, dass Alice es wusste. Das war irgendwie tröstlich, und dieser Entschluss verbreitete in ihr ein warmes Gefühl der Zufriedenheit.
»Amy?«
»Ja, Alice?«
»Der Schuh gehörte Ihrer Mutter, nicht wahr?«
»Ja.« Als Amy dieses Wort aussprach, fühlte sie sich auf seltsame, wunderbare Weise ganz ruhig. Natürlich hatte Alice herausgefunden, dass es Hannah Powells Schuh sein musste – wie sonst würden die Teile dieses Puzzles zueinanderpassen?
»Das dachte ich mir, meine Liebe.«
»Sie … sie wurden aus Versehen verkauft. Ich kam her, um sie zu finden.«
»In Ordnung.« Wieder folgte eine Pause.
»Ich … ich …«
»Sie müssen mir nicht die ganze Geschichte erzählen, Amy. Ich sehe, wie schwer es Ihnen fällt.«
»Danke«, murmelte Amy erleichtert, obwohl es gutgetan hätte, sich die ganze Geschichte von Anfang bis Ende von der Seele zu reden. Na ja, vielleicht würde sie ein oder zwei Einzelheiten weglassen müssen, wie ihre Rede bei Nuala McCarthys Totenwache oder ihre verrückte Begegnung mit den polnischen Mädchen im Fitnessclub. Aber das hätte die ganze Nacht gedauert und schließlich war es Alices Party. Außerdem drohte Amy jeden Moment in Tränen auszubrechen. Nicht etwa aus Kummer, sondern weil sie sich … zum ersten Mal seit Ewigkeiten verstanden fühlte.
»Ich … sollte besser an meinen Tisch zurückgehen«, fuhr Amy fort. »Ich nehme die Gastgeberin allein in Anspruch, und das ist unhöflich.«
»Ist das so?«, fragte Alice mit funkelndem Lächeln. »Muss ich bei meiner Überraschungsparty überhaupt die Gastgeberin spielen?«
»Das ist
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