Alle meine Schuhe
«
»Ja, ich bin’s. Bist du noch in New York?«
»Am Flughafen. Woher weißt du, dass ich in New York bin?« Die Worte kamen wie von selbst aus ihrem Mund. Der Schreck, Justins Stimme zu hören, in Kombination mit ihren Kopfschmerzen ließen sie beinahe ohnmächtig werden. Sie schwankte leicht und setzte sich auf ihren Koffer.
»Jesminder hat es mir erzählt. Du überraschst mich, Abe. New York!«
»Warum nicht ?«, feuerte Amy zurück, getroffen von seinem ungläubigen Tonfall.
»Ich dachte, du wärst bei Jes.«
»War ich auch«, erwiderte sie scharf.
»Und, hattest du eine schöne Reise?« Er plauderte einfach so drauflos. Als würde er sich beim Sonntagsspaziergang mit seiner Mutter im Park unterhalten. Amy dagegen blieb fast die Spucke weg.
»Justin, ich habe dich so oft angerufen. Warum hast du nie geantwortet?«
Sie hörte, wie Justin die Luft ausstieß. »Oh, Abe, weil ich wütend auf dich war, deshalb. Ich dachte, du hättest einen anderen gefickt.«
»Ich habe verdammt noch mal niemand anderen gefickt!«, schrie Amy und ließ den Mann zusammenfahren, der vor ihr stand und die Abflugdaten studierte. »Das hättest du wissen müssen.«
»Tut mit leid, okay? Aber im ersten Moment sah alles nicht gerade unschuldig aus, das musst du zugeben.«
Amy begann zu kochen. Mehr hatte er nicht dazu zu sagen? Sie spürte, wie ihre Wangen brannten. »Du hast mir nie die Chance gegeben, alles aufzuklären. Wie konntest du das tun?«
»Abe, warte mal …«
»Wir waren seit eineinhalb Jahren zusammen, Justin. Eineinhalb Jahre! Und von einem Moment auf den anderen lässt du mich vor die Wand laufen. Das habe ich nicht verdient. Niemand verdient das.«
»Schön und gut, Abe, schön und gut«, bemühte er sich, sie zu beruhigen.
Als sie die Augen schloss, spürte sie förmlich, wie er ihr übers Haar fuhr, sein Atem über ihren Kopf strich. Sie sah die Lachfältchen um seine Augen, wenn er sie belustigt anschaute – dieser Ausdruck, den er immer hatte, wenn sie sich auf etwas versteifte. »Ich war wohl ein bisschen voreilig. Und es tut mir leid. Verdammt, Abe, du lässt mich nicht so leicht davonkommen.«
Amy sagte nichts. Sie saß einfach nur auf dem Koffer und versuchte, ruhig zu bleiben. Davonkommen? Das wolltest du doch! Was kommt wohl als Nächstes?
»Bist du noch dran, Abe?«
»Ich bin noch da. Wann hast du meinen Brief gelesen?«
»Brief?«, wiederholte er.
»Den Brief, den ich auf deinen Schreibtisch gelegt habe.«
»Ach der! Mist, den habe ich wohl zerrissen.«
»Du hast was? «
»Ich war nicht in der Stimmung, mir all deine Entschuldigungen anzuhören – und ich dachte, genau das wäre es. Dafür war ich viel zu wütend, Abe. Erinnere dich, Natasha …«
» Natürlich erinnere ich mich an Natasha!«, fiel Amy ihm ins Wort. Sie rieb sich den schmerzenden Kopf und presste die Augen zusammen. »Sie ist nur schwer zu überbieten, Justin. Dann rufst du mich jetzt also an, um dir endlich die Wahrheit anzuhören?«
»Ich sagte dir doch, dass ich weiß, was passiert ist.«
»Tust du das? Hat Jesminder es dir erzählt?«
Es folgte eine Pause, dann ein Seufzen. Amy hielt den Atem an. »Nein, Abe, Sergei hat mich angerufen. Gestern.«
Amy war wie betäubt. »Sergei?«, stammelte sie. »Warum um Himmels willen … Wie zum Henker ist er an deine neue Nummer gekommen, wenn ich sie nicht herausfinden konnte?«
Justin lachte. »Er hat sich bei der Telefonauskunft Mums Nummer besorgt und es geschafft, sie umzustimmen. Dieser redegewandte Teufel, nicht wahr?«
»Hör auf damit«, fuhr Amy ihn an. Sie wollte nicht mehr über Sergei nachdenken als unbedingt nötig. Dann fügte sie sanfter hinzu: »Wie geht es Phyllis?«
»Gut, danke, so wie immer eigentlich«, sagte er mit wesentlich zärtlicherer Stimme. »Ich glaube, sie vermisst dich.«
»Sie fehlt mir auch.« Amy kämpfte gegen den Kloß an, den sie plötzlich im Hals spürte.
Justin schien die Rührung in ihrer Stimme nicht aufzufallen. »Na ja, dieser Sergei hat mich überrumpelt. Ich dachte, der Anruf käme von einem meiner Tourorganisatoren – wenn ich gewusst hätte, wer dran ist, hätte ich wahrscheinlich gar nicht abgenommen – jedenfalls, nachdem wir einmal angefangen hatten, miteinander zu reden, schien er ganz okay zu sein.«
»Das habe ich versucht, dir in meinem Brief zu erklären. Das ist die Wahrheit, Justin.« Amy merkte, dass sie zitterte, obwohl es in dem Terminal mit den großen Glasfronten drückend heiß war. »Ich hätte es
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