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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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einmal eine Zeit gegeben, da ich sie für unendlich hielt; als ich Vlissingen verließ, gab ich mich noch der Hoffnung hin, ich würde mit ihrer Entdeckung eine Ewigkeit zubringen können; es hatte mir Freude gemacht, auf dem Gipfel eines Berges stehend jenseits von einer Wolkenwand durch einen kleinen Spalt ein Stück besonnter Ebene zu erkennen; mit Vergnügen hatte ich von der Höhe eines Passes aus ein neues Tal entdeckt, eine Schlucht zwischen hohen Felswänden betreten, an unbewohnten Inseln Anker gelegt; jetzt aber wußte ich, daß hinter jedem Berg ein Tal gelegen war, daß alle Engpässe einen Ausgang haben, alle Höhlen Wände; die Welt war rund und einförmig: vier Jahreszeiten, sieben Farben, ein einziger Himmel, Wasser, Pflanzen, ein platter oder in Katastrophen aufgewühlter Boden; stets das gleiche Einerlei.
    «Nordost, Südwest», sagte Carlier. «Er behält seine Richtung bei.»
    Und er schloß sein Heft.
    «Es ist wie eine Spazierfahrt.»
    Wir hatten uns in Montreal zuverlässige Männer ausgesucht; wir hatten sechs Kanus mit Proviant, mit Kleidungsstücken und Geräten gefüllt; seit einem Monat schon hatten wir den Ort unserer ersten Begegnung hinter uns gelassen,die Reise vollzog sich bisher ohne Zwischenfall. Die Savanne lieferte uns im Überfluß Büffel, Hirsche, Rehe, Truthähne und Wachteln.
    «Sobald wir die Mündung entdeckt haben, verfolge ich den Fluß zurück zur Quelle», teilte Carlier mir mit. «Es muß ein Wasserweg zwischen den Seen und diesem Fluß bestehen.» Er blickte mich etwas beunruhigt an. «Oder glaubst du das nicht?»
    Jeden Abend sagte er dasselbe, und jeden Abend mit gleicher Inbrunst.
    «Warum denn nicht?» fragte ich zurück.
    «Dann chartern wir ein Schiff, nicht wahr? Und machen die Reise nach China.» Sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. «Ich will nicht, daß irgend jemand vor mir auf diesem Weg nach China kommt.»
    Ich zog an meiner Pfeife und stieß durch die Nase eine Rauchwolke aus. Umsonst versuchte ich, an seinem Leben teilzunehmen und seine Zukunft zu meiner zu machen, ich konnte nicht sein wie er. Seine Hoffnungen und starrsinnigen Ängste blieben mir ebenso fremd wie die für ihn so einzigartige Süßigkeit dieser Stunde. Er legte mir die Hand auf die Schulter.
    «Woran denkst du?» fragte er liebevoll.
    Drei Jahrhunderte lang hatte mir kein Mensch die Hand auf die Schulter gelegt, und seit Caterinas Tod hatte mich niemand gefragt: «Woran denkst du?» Er aber sprach zu mir, als wäre ich seinesgleichen; darum hatte ich ihn so gern.
    «Ich möchte du sein», sagte ich.
    «Du?» sagte er. «Du möchtest an meiner Stelle sein?» Er hielt mir lachend die Hand hin. «Topp! Wir wollen tauschen!»
    «Ach!» sagte ich.
    «Wie gern wäre ich unsterblich!» stieß er leidenschaftlich hervor.
    «Das dachte ich auch einmal», sagte ich.
    «Dann wäre ich ganz sicher, die Durchfahrt nach China zu finden; ich würde alle Flüsse der Erde stromabwärts fahren und würde eine Karte von allen Erdteilen zeichnen.»
    «Nein», sagte ich. «Bald würdest du dich nicht mehr für China interessieren, du würdest dich für nichts mehr interessieren, weil du allein wärst auf der Welt.»
    «Bist du allein auf der Welt?» fragte er vorwurfsvoll.
    Er hatte männliche Züge und männliche Bewegungen; aber oft lag etwas weiblich Zartes in dem Ton seiner Stimme und in dem Ausdruck seines Gesichts.
    «Nein», sagte ich. «Jetzt nicht mehr.»
    Weit draußen in der Steppe stieß ein Tier einen rauhen Schrei aus.
    «Nie hatte ich einen Freund», sagte ich. «Die Männer haben mich immer wie einen Fremden betrachtet oder wie einen Toten.»
    «Ich bin dein Freund», sagte er.
    Eine ganze Weile lauschten wir schweigend dem leichten Schlag der Ruder, die durch das Wasser strichen; der Fluß machte so viele Windungen, daß wir seit dem Morgen gewiß nur wenig vorangekommen waren.
    Plötzlich sprang Carlier auf: «Ein Dorf!» rief er aus.
    Rauch stieg zum Himmel auf, und bald darauf erkannten wir im Schutz großer Bäume gelegene Hütten, in der Form von Wiegen, die mit Binsenmatten gedeckt waren. Indianer standen am Ufer, stießen schrille Schreie aus und schwenkten ihre Bogen.
    Carlier hieß uns schweigen.
    Die Männer ruderten weiter, ohne ein Wort zu sagen. Carlier hatte den Sack geöffnet, der die zum Tausch mit den Eingeborenen bestimmten Waren enthielt: Stoffe, Perlmutterketten, Nadeln und Scheren. Schon versperrten uns ein paar Pirogen den Weg. Einen vielfarbigen Schal in den

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