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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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auszurüsten. Fünf Jahre lang hatte er die großen Seen umkreist, die der St.-Lorenz-Strom mit dem Atlantischen Ozean verbindet und von wo aus er einen Durchgang zum Purpurmeer finden wollte; er war jetzt fast mittellos, und bei seiner Regierung fand er keine Unterstützung; sie wollte, daß die französischen Kolonisten sich in Kanada niederließen und sich nicht im Innern unerforschter Gebiete verloren.
    Am zweiten Tage erreichten wir die Prärie. Auch auf dieser Seite hatten die Indianer sie in Brand gesetzt: Es war die Zeit der Jagden. Von Zeit zu Zeit stießen wir auf Bisonknochenund die Spur von Indianerfüßen, aber wir mußten annehmen, daß auf Meilen in die Runde kein lebendes Tier mehr zu finden sei. Carlier sagte gar nichts mehr; er war am Ende seiner Kraft. In der Nacht traf ich ihn dabei an, wie er an dem Stück Büffelleder kaute, aus dem er sich jeden Tag seine Mokassins schnitt.
    «Können Sie mir wirklich nichts zu essen geben?» fragte er mich eines Morgens.
    «Sie können meinen Reisesack durchwühlen. Sie finden nichts darin.»
    «Ich kann nicht mehr weiter», sagte er.
    Er streckte sich am Boden aus, verschränkte die Arme unter dem Kopf und machte die Augen zu.
    «Warten Sie auf mich», sagte ich. «In vier Tagen bin ich zurück.»
    Ich stellte ihm eine Kürbisflasche mit Wasser in Reichweite hin und schritt kräftig aus. Ohne Mühe fand ich meinen Weg: meine Fußabdrücke waren auf dem moorigen Grunde erhalten geblieben, und in der Prärie erkannte ich meine Spur an den niedergetretenen Gräsern. Ich marschierte ohne zu rasten bis zum Einbruch der Dunkelheit und machte mich am folgenden Tag im Morgengrauen weiter auf den Weg. In zwei Tagen hatte ich das Dorf erreicht. Es war leer, alle Indianer befanden sich auf der Jagd. Aber in einem Versteck fand ich Fleisch und Mais.
     
    «Langsam», sagte ich, «langsam.»
    Er biß gierig in ein Stück Fleisch. Seine Augen leuchteten.
    «Essen Sie nicht?» fragte er.
    «Ich habe keinen Hunger.»
    Er lächelte. «Essen tut so gut», meinte er.
    Nun lächelte auch ich. Ich wäre gern dieser Mensch gewesen, der da Hunger hatte und aß, dieser Mensch, der mit Leidenschaft den Durchgang nach China suchte.
    «Was haben Sie jetzt vor?» fragte ich.
    «Nach Montreal zu gehen und dort Geld aufzutreiben für eine neue Expedition.»
    «Ich habe Geld», sagte ich.
    In meinem Reisesack lagen Edelsteine und Goldbarren.
    «Sie sind wohl der Gottseibeiuns in Person?» rief er lachend aus.
    «Und wenn es wirklich so wäre?»
    «Dann würde ich Ihnen gern meine Seele verkaufen für den Durchgang nach China. Ich lege keinen Wert auf ein künftiges Leben. Dies hier genügt mir vollauf!»
    In seiner Stimme lag so viel echte Glut, daß von neuem der Neid mir wie ein Stachel im Herzen saß. Ob ich wohl noch einmal wieder lebendig werde? fragte ich mich.
    «Ich bin nicht der Teufel», sagte ich.
    «Und wer sind Sie dann?»
    Niemand, hätte ich beinahe gesagt; doch da er mich leibhaft vor sich sah, würde er weiter fragen; ich hatte ihm das Leben gerettet. Für ihn jedenfalls war ich da. Ich fühlte in meinem Herzen eine vergessene Wärme; mein eigenes Leben baute sich von neuem um mich auf.
    «Ich werde es Ihnen sagen», fing ich an.
    In gleichmäßigem Rhythmus fielen die Ruder ins Wasser, unsere Kanus glitten auf dem träge sich windenden Fluß dahin. Carlier saß neben mir, das Bordbuch auf den Knien, in das er alles eintrug, was sich im Laufe des Tages ereignete; ich rauchte: eine Sitte, die ich von den Indianern angenommen hatte. Von Zeit zu Zeit hob Carlier den Kopf; er betrachtete die Felder mit wildem Reis, die Savannen, auf denen nur hier und da eine Baumgruppe stand; manchmal flog aus dem Röhricht schreiend ein Vogel auf. Die Luft war feucht und lau, die Sonne begann langsam die Wanderung nach dem Horizont zu.
    «Ich liebe diese Stunde», sagte er.
    «Das sagst du von jeder Stunde.»
    Er lächelte: «Ich liebe die Jahreszeit. Ich liebe dieses Land.»
    Er begann wieder zu schreiben; er machte sich Notizen über Bäume und Vögel, die Farbe des Himmels, die Gestalt der Fische. Alle diese Dinge waren für ihn von Wichtigkeit. In seinem Tagebuch hatte jeder Tag sein besonderes Antlitz; voller Neugier wartete er auf die Abenteuer, die bis zur Mündung des Flusses uns noch begegnen würden; für mich war die Mündung schon da, wie bei allen Flüssen, und jenseits der Mündung lag das Meer, und jenseits des Meeres andere Länder, andere Meere, die Welt war rund. Es hatte

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