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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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kurzer, wirrer Bart bedeckte sein Untergesicht. Ich setzte mich zu ihm und wartete.
    Als er die Augen aufschlug, sah er mich staunend an. «Wie sind Sie hergekommen?»
    «Ich habe den Fluß durchquert.»
    Sein Antlitz strahlte auf: «Sie haben ein Kanu?»
    «Nein. Ich bin herübergeschwommen.»
    Er warf die Decken von sich und sprang auf die Füße: «Sie sind allein?»
    «Ja.»
    «Haben Sie sich auch verirrt?»
    «Ich kann mich nicht verirren», sagte ich, «denn ich habe kein Ziel.»
    Er strich sich mit der Hand über sein wirres Haar; er blickte ratlos drein.
    «Ich habe mich verirrt», stieß er endlich hervor. «Meine Gefährten haben mich verloren oder im Stich gelassen. Wir waren an den Quellen eines Flusses angekommen, dem wir vom Eriesee aus folgten; ein Indianer hatte mir gesagt, daß wir dort einen Saumpfad finden würden, der zu einem großen Strom hinführte; von zwei Mann begleitet, machte ich mich auf die Suche; wir haben ihn gefunden und folgten seinem Lauf; aber als ich am dritten Tag erwachte, fand ich mich allein; ich dachte, meine Gefährten wären vorausgegangen; so kam ich bis hierher, aber niemand war da.» Er verzog das Gesicht. «Die beiden hatten den Proviant.»
    «Sie müssen den Weg zurückgehen, den Sie gekommen sind», sagte ich.
    «Ja. Aber ob die anderen auf mich gewartet haben? Ich fürchte, es war ein Komplott.» Er lächelte mich an. «Habe ich mich gefreut, als ich gestern Ihr Feuer sah! Kennen Sie diesen Fluß?»
    «Ich sehe ihn zum erstenmal.»
    «Ach!» meinte er enttäuscht.
    Er starrte in die schlammigen Fluten, die sich in langsamen Windungen durch das Sumpfland zogen.
    «Er fließt von Nordosten nach Südwesten; zweifellos mündet er in das Purpurmeer, meinen Sie nicht auch?»
    «Ich kann es Ihnen nicht sagen», antwortete ich.
    Auch ich betrachtete den Fluß; und plötzlich war er nicht mehr nur ein träge fließendes Wasser, sondern er war ein Weg; er führte irgendwohin.
    «Wohin gehen Sie?» fragte ich.
    «Ich suche den Durchgang nach China», antwortete mir der Reisende, «und wenn dieser Fluß hier wirklich von den Seen zum Ozean führt, habe ich ihn gefunden.»
    Er lächelte mich an. Es schien mir wunderbar, daß jemand mich anlächelte.
    «Und Sie?» fragte er. «Woher kommen Sie?»
    «Aus Mexiko.»
    «Zu Fuß? Und ganz allein?» fragte er erstaunt.
    «Ja.»
    Er blickte mich begierig an: «Und wie ernähren Sie sich?»
    Ich zögerte: «Von Zeit zu Zeit habe ich einen Büffel erlegt; die Indianer haben mir etwas Mais gegeben.»
    «Ich habe jetzt seit drei Tagen nichts gegessen», teilte er mir heiter mit.
    Ein kurzes Schweigen trat ein. Er wartete.
    «Es tut mir leid», sagte ich, «aber ich habe keinen Proviant. Manchmal bleibe ich zwei oder drei Wochen lang ohne Nahrung: ein Geheimnis, das ich von tibetischen Weisen gelernt habe.»
    «Ach!» Er preßte die Lippen zusammen, sein Gesicht verfiel; dann lächelte er wieder, freilich etwas mühsam. «Teilen Sie mir recht schnell dies Geheimnis mit», sagte er.
    «Man braucht Jahre dazu», gab ich kurz zur Antwort.
    Er drehte sich um und machte sich schweigend daran, seine Decken zu falten.
    «Gibt es hier kein Wild?» fragte ich.
    «Nichts», antwortete er. «Eine Tagesreise von hier beginnt die Prärie, doch sie ist verbrannt.»
    Er breitete auf dem Boden ein Stück Büffelleder aus und begann sich neue Mokassins daraus zu schneiden.
    «Ich werde versuchen, wieder zu meinen Leuten zu stoßen», sagte er.
    «Und wenn Sie sie nicht finden?»
    «Ja, dann gnade mir Gott.»
    Er glaubte meinen Worten nicht; er dachte, ich wollte nur meinen Proviant nicht mit ihm teilen. Und dabei hätte ich ihm so gern irgend etwas zum Dank für sein Lächeln gegeben.
    «Fünf Tage von hier kenne ich ein indianisches Dorf», sagte ich. «Dort bekämen Sie sicherlich Mais.»
    «Fünf Tage!» rief er aus.
    «Das macht zehn Tage hin und zurück. Aber zu zweien könnten wir eine genügende Menge tragen, um ein paar Wochen davon zu leben.»
    «Sie würden mich nach Montreal begleiten?»
    «Warum nicht?» sagte ich.
    «Dann wollen wir schleunigst aufbrechen», sagte er.
    Wir durchschwammen wieder den Fluß; das Wasser war weniger kalt als im Morgengrauen; mein Gefährte schien sehr müde; er sagte nicht mehr viel. Immerhin erfuhr ich, daß er Pierre Carlier hieß; er war in Saint-Malo geboren und hatte sich schon als Kind vorgenommen, ein großer Entdecker zu werden; er hatte seine ganze Habe zu Geld gemacht, um von Montreal aus eine Expedition

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