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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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rühmte dann lärmend die Heldentaten, die er verrichtet hatte. Ich nahm noch einen weiteren Schluck. Mein Kopf glich selbst einer Kalebasse mit Kieselsteinen, mein Blut schien zu Feuer zu werden. Ich war jetzt ein Indianer. Schon so lange ich lebte, hatte ich die Gestade dieses Flusses vor Augen gehabt, grausige, tätowierte Götter herrschten in meinem Himmel, der Takt der Trommeln und die Schreie meiner Indianerbrüder erfüllten mein Herz mit Wonne; eines Tages würde ich in ein Paradies eingehen, in dem es ewige Tänze, Feste und blutige Siege gab   …
    Als ich die Augen öffnete, lag ich in meine Decke gehüllt am Boden, oberhalb des Dorfes, an der Stelle, wo wir gelandet waren. Mein Kopf schmerzte fürchterlich. Ich blickte in die gelben Fluten des Flusses; die Luft rings um mich her schien mir fade und allzu vertraut. Niemals, dachte ich bei mir, werde ich ein Indianer werden. Immer wird der Geschmack des Lebens auf meiner Zunge derselbe sein. Immer dieselbe Vergangenheit, die gleiche Erfahrung, das gleiche Denkvermögen und gleiche Langeweile. Tausend Jahre; zehntausend Jahre: Nie kann ich mir selber entrinnen. Ich blickte wieder auf die gelbe Flut, und plötzlich sprang ich auf: die Boote waren fort!
    Ich lief zu Carlier. Er schlief. Alle Männer schliefen, die Flinte neben sich. Offenbar hatten die Indianer Bedenken gehabt, sie umzubringen, weil sie fürchteten, damit einen Krieg mit den Weißen heraufzubeschwören; aber sie hatten während der Dunkelheit die Boote losgemacht. Ich legte meinem Freund die Hand auf die Schulter. Er schlug die Augen auf, und ich zeigte ihm eine leere gelbe Wasserfläche.
    Den ganzen Tag berieten wir uns inmitten unserer Leute über die Möglichkeiten der Rettung, die uns übrigblieben. Die Indianer zu dem Zweck anzugreifen, ihnen ihre Pirogen und ihre Vorräte abzunehmen, war ein unmögliches Unterfangen, sie waren zu zahlreich dazu. Mit unseren Äxten Baumstämme auszuhöhlen und flußabwärts zu fahren, schien uns allzu gewagt: die nächsten Dörfer würden sich sicher feindselig verhalten, und wir hatten keine Waren mehr, die wir gegen Lebensmittel hätten eintauschen können; außerdem brauchten wir sichere Kanus, wenn wir auf Stromschnellen stießen.
    «Es gibt nur eine Lösung», sagte ich. «Wir müssen ein Fort errichten, in dem wir uns gegen Einfälle der Indianer verteidigen können. Dort werden wir Vorräte von Wild und geräucherten Fischen ansammeln, damit wir den Winter über aushalten können. Ich werde indessen zu Fuß nach Montreal zurückkehren, und sobald der Fluß wieder frei ist, komme ich mit Kanus, mit Lebensmitteln, Munition und Leuten wieder hierher.»
    «Montreal ist 1600   Meilen von hier entfernt», sagte Carlier.
    «In drei bis vier Monaten kann ich es schaffen.»
    «Mitten auf dem Weg wird dich der Winter überfallen.»
    «Ich kann im Schnee weitergehen.»
    Er senkte den Kopf und überlegte lange; als er wieder aufblickte, hatte seine Miene sich verdüstert.
    «Ich werde selbst nach Montreal gehen», sagte er.
    «Nein», antwortete ich.
    «Auch ich kann schnell und kann im Schnee marschieren.»
    «Du kannst auch unterwegs sterben», sagte ich. «Was soll dann aus diesen Leuten werden?»
    Er erhob sich und bohrte seine Hände in die Taschen. Offenbar stieg ihm etwas in der Kehle auf. Schon einmal hatte jemand so vor mir gestanden, mit diesem selben Blick und einem Ausdruck, als würge ihn etwas im Hals.
    «Das ist richtig», sagte er dann.
    Er wendete mir den Rücken und machte ein paar Schritte; mit dem Fuß stieß er einen Kieselstein vor sich her. Auf einmal fiel es mir ein: es war Antonio, der mich mit solchen Augen angesehen hatte.
     
    «Da seht!» rief ich der Bootsmannschaft zu. «Das ist das Fort Carlier!»
    Ihre Hände lagen jetzt unbeweglich an den Rudern. Das Fort erhob sich am zweiten Bogen des Flusses; in der Luftlinie schien es nur einige Meter entfernt. Es war ein starkes Bauwerk aus runden schwarzen Stämmen und mit einer dreifachen Palisade umgeben. Draußen bemerkte man nichts von einer menschlichen Gegenwart. Ich richtete mich am Vorderteil des Kanus auf und rief: «Hallo! Hallo!» Ich hörte nicht auf zu rufen, bis wir anlegten. Ich sprang auf den mit zartem Gras und Frühlingsblumen bedeckten Uferboden, ich lief auf das Blockhaus zu. Vor dem Tor der ersten Einfriedung erwartete mich Carlier, auf sein Gewehr gelehnt.
    Ich packte ihn an den Schultern und rief: «Wie bin ich froh, daß ich dich wiedersehe!»
    «Ich bin auch

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