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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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froh», sagte er.
    Aber er lächelte nicht. Sein Gesicht war weiß und wie aufgetrieben; er war recht alt geworden.
    Ich zeigte auf die acht großen mit Proviant, Munition und Waren beladenen Kanus: «Sieh dir das an!» sagte ich.
    «Ich sehe», sagte er. «Hab Dank.»
    Ich stieß die Tür auf, und ich folgte ihm ins Innere des Forts. Es war ein großer Raum mit niederer Decke und einem Fußboden aus gestampftem Lehm. Ein Mann lag in einer Ecke auf einem Lager aus Fellen und getrocknetem Gras.
    «Wo sind die anderen?»
    «Die beiden anderen sind auf dem Speicher. Sie behalten die Steppe im Auge.»
    «Die beiden anderen?»
    «Ja», sagte er.
    «Was ist denn geschehen?» fragte ich.
    «Skorbut», antwortete er. «Dreizehn Mann sind tot. Der da wird vielleicht durchkommen: es ist jetzt Frühling, und ich lasse ihn eine Abkochung aus kanadischer Tanne trinken: auf die Weise bin ich selber geheilt. Auch ich wäre fast gestorben.» Er sah mich an und schien mich endlich wirklich zu erkennen. «Es war Zeit, daß du kamst.»
    «Ich bringe frisches Obst», sagte ich, «und Mais. Komm, sieh dir alles an.»
    Er ging zu dem Mann in der Ecke. «Brauchst du irgend etwas?»
    «Nein», antwortete der Mann.
    «Ich bringe dir Früchte», sagte Carlier.
    Er folgte mir, und wir gingen zu den Kanus.
    «Haben euch die Indianer angegriffen?»
    «Drei- oder viermal in den ersten vier Wochen. Aber wir haben sie abgeschlagen. Damals waren wir noch genug Leute.»
    «Und dann später?»
    «Später? Wir haben unsere Verluste vor ihnen geheimgehalten. Unsere Toten haben wir während der Nacht begraben, das heißt, wir konnten sie nur mit einer Schicht Schneebedecken; der Boden war zu hart, um richtige Gräber zu schaufeln.» Sein Blick schweifte in die Ferne. «Als der Frühling kam, mußten wir sie von neuem begraben. Wir waren nur noch fünf Mann, und mein Knie war geschwollen.»
    Meine Leute hatten die Kanus festgemacht, sie kamen jetzt auf das Fort zu, tief gebeugt unter der Last der Kisten und Säcke.
    «Glaubst du, daß die Indianer versuchen werden, uns an der Weiterfahrt zu hindern?» fragte ich.
    «Nein», sagte Carlier. «Seit zwei Wochen schon haben die Männer alle das Dorf verlassen. Ich glaube, es ist Krieg in der Prärie.»
    «Wir wollen fort, sobald meine Mannschaft sich etwas ausgeruht hat», sagte ich. «Drei oder vier Tage werden reichen.» Ich zeigte auf die Kanus. «Es sind schöne, starke Kanus; damit können wir uns an die Stromschnellen wagen.»
    Er nickte langsam mit dem Kopf: «Ja, gut.»
    Die folgenden Tage verbrachten wir mit Vorbereitungen. Es fiel mir auf, daß Carlier überhaupt nicht nach meiner Reise fragte; er erzählte mir von dem harten Winter, den er in dem Fort verbracht hatte. Um die Indianer über die Stärke der Besatzung zu täuschen, zwang er alle Gesunden, ständig Komödie zu spielen; sie mußten das Fort verlassen, als habe er sie wegen Überschreitung seiner Anordnungen verjagt. Er erzählte diese Dinge zwar in munterem Ton, aber ohne zu lächeln. Es schien, als habe er das Lächeln verlernt.
    An einem schönen Maimorgen schifften wir uns ein. Der Kranke, der sich zu erholen begann, wurde sorgfältig auf den Boden eines Kanus gebettet. Ohne Zwischenfall kamen wir an dem Indianerdorf vorbei, in dem nur Greise und Frauen zurückgeblieben waren, und wieder flossen die Tage einförmig und langsam dahin im Rhythmus unserer Ruderschläge.
    «Der Fluß fließt weiter von Nordosten nach Südwesten», sagte ich zu Carlier.
    Sein Gesicht hellte sich auf: «Ja.»
    «Eines Tages werden hier überall am Flußufer Forts und Faktoreien stehen», fuhr ich fort. «Und an Stelle des Forts Carlier wird eine Stadt deinen Namen tragen.»
    «Eines Tages», sagte er. «Ich erlebe das nicht mehr.»
    «Was tut das?» sagte ich. «Jedenfalls hast du getan, was du dir vorgenommen hattest.»
    Er schaute auf das gelbe Wasser und die blühende Savanne, deren Bäume oben am Wipfel zartgrüne Nadeln trugen.
    «So habe ich früher auch gedacht», sagte er.
    «Und jetzt?»
    «Jetzt kann ich den Gedanken nicht ertragen, daß du alle diese Dinge sehen wirst und ich nicht», rief er leidenschaftlich aus.
    Mein Herz zog sich zusammen.
    Es ist da, sagte ich bei mir. Jetzt hat er es auch bekommen.
    Aber ich sagte nur: «Andere Menschen werden es auch sehen.»
    «Aber sie haben nicht gesehen, was ich sehe; eines Tages sterben auch sie; das ist unser aller Schicksal. Ich beneide sie nicht.»
    «Du solltest auch mich nicht beneiden», sagte

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