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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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er in bestimmtem Ton. «Ich gehe auf alle Fälle.»
    Ich blickte ihn an. Ein Wort, das ich vor Jahrhunderten gesagt hatte, kam mir auf die Lippen:
    «Welcher Stolz!»
    Er fing zu lachen an.
    «Warum lachst du?»
    «Glaubst du, daß man neben dir leben und noch irgendwelchen Stolz haben kann?» sagte er.
    «Laß mich allein gehen», bat ich ihn.
    «Du verstehst nicht!» sagte er. «Du verstehst eben nichts! Ich kann nicht hier bleiben. Wenn ich an einem Ort hätte bleiben können, dann wäre ich noch in Montreal oder in Saint-Malo; ich würde in einem ruhigen Haus mit Weib und Kindern wohnen.» Er preßte die Lippen zusammen. «Ich muß fühlen, daß ich lebe», sagte er. «Und wenn ich darüber sterbe.»
    In den nächsten Tagen bemühte ich mich vergebens, ihnzu überzeugen. Er antwortete mir nicht einmal. Er packte einen Sack mit Lebensmitteln, überprüfte seine Instrumente, und eines Tages drängte er voller Ungeduld: «Gehen wir.»
    Wir waren schwer beladen. Wir führten Büffelhäute mit uns, um uns Mokassins zu schneiden, denn ein Tagesmarsch genügte, um ein Paar abzunutzen; wir brauchten Flinten, Patronen, Äxte, Pelzdecken, ein Kanu aus Büffelhaut, um die Flüsse zu überqueren, und für zwei Monate Proviant für einen Mann. Wir folgten erst auf den Rat der Indianer einem Büffelpfad. Sie hatten uns gesagt, wenn man sich an die Spur der wilden Tiere hefte, so könne man sicher sein, keinen Wasserlauf zu verfehlen. Wir gingen schweigend dahin. Ich war zufrieden, ein Ziel zu haben. Seitdem ich mit Carlier verbunden war, lag immer ein Ziel vor mir, ein Ziel, das mir eine Zukunft gab oder sie mir verhüllte; je schwerer es zu erreichen war, desto sicherer fühlte ich mich vor der Gegenwart. Der große Strom schien schwer zu erreichen, und jede Minute genügte sich selbst.
    Als eine Woche vergangen war, fing es zu regnen an; wir durchquerten eine Prärie, deren hohe und harte Gräser uns die Hände zerkratzten; die aufgeweichte Erde machte das Gehen beschwerlich, und bei Nacht boten die nassen Bäume nur einen schwachen Schutz; dann kamen wir an einen Wald, durch den wir uns mit Mühe einen Weg bahnten, indem wir mit unseren Äxten einen Büffelpfad verbreiterten; an mehreren Flüssen kamen wir vorbei. Unter dem grauen Regenvorhang, der alles überzog, wirkte das Land sehr öde; kein Wild, kein Vogel flüchtete bei unserem Nahen. Unser Proviant nahm ab.
    Als wir das erste Dorf vor uns liegen sahen, näherten wir uns lautlos. Man hörte Geschrei und Trommellärm. Ich glitt von Baum zu Baum; auf dem Platz sah ich Indianer, die andere gefesselte Indianer umtanzten. In der Prärie war immer Krieg. Von da an hielten wir uns von allen Dörfern fern. Eskam vor, daß wir einen Indianertrupp sahen, der gegen einen feindlichen Stamm auszog, brüllend wie wilde Tiere; wir versteckten uns auf Baumwipfeln, und sie bemerkten uns nicht.
    Es regnete 35   Tage lang, und wir stießen auf mehr als 20   Wasserläufe. Nach Ablauf dieser Zeit erhob sich ein großer Wind und fegte den Himmel klar. Wir marschierten nun mit weniger Schwierigkeit, aber wir hatten nur noch für zwei Wochen Proviant.
    «Wir müssen umkehren», schlug ich Carlier vor.
    «Nein», antwortete er.
    Er hatte jetzt wieder sein altes Gesicht; sein sonnverbranntes junges Gesicht, das männlicher wirkte durch einen Bart und doch gleichzeitig zarter durch lange, weichfallende Haare; aber seine klarblickenden und sorglos fröhlichen Augen hatte er nicht wiedergefunden; sein Blick war immer abwesend.
    Munter fügte er hinzu: «Der Regen hat aufgehört, wir können Büffel jagen.»
    «Wir werden aber nicht jeden Tag einen Büffel erlegen.»
    Unter diesem drückenden Himmel war es unmöglich, ein Stück Fleisch länger als 24   Stunden aufzubewahren.
    «Wir werden auf Dörfer stoßen, in denen wir Mais kaufen können.»
    «Es ist Krieg», sagte ich.
    «Es ist nicht überall Krieg.»
    Ich blickte ihn zornig an: «Hast du es so eilig zu sterben?»
    «Es ist mir gleichgültig, ob ich sterbe», sagte er.
    «Wenn du stirbst, gehen deine Entdeckungen mit dir unter», gab ich ihm zu bedenken. «Bilde dir nur nicht ein, daß einer deiner Leute darauf aus sein wird, den großen Fluß zu finden: sie werden heimisch werden, wo wir sie zurückgelassen haben, und sich mit den Indianern vermischen.» Ich fügte noch hinzu: «Auch ich werde ihn nicht suchen.»
    «Was macht das?» meinte Carlier.
    Er legte mir die Hand auf die Schulter; lange schon hatte ich diese freundschaftliche

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