Alle Menschen sind sterblich
am Leben.»
«Und was haben Sie dann gemacht?» fragte sie.
Sie war gar nicht neugierig, zu erfahren, was er gemacht hatte, aber er hatte recht: solange er sprach, solange sie ihn reden hörte, schwieg jede Frage still. Es wäre gut, wenn diese Geschichte niemals zu Ende ginge.
«Ich bin nach dem Meer zu gewandert, bis ich auf ein Dorf an der Küste stieß. Der Häuptling willigte ein, mich in den Stamm aufzunehmen, und ich habe mir eine Hütte gebaut.Ich wollte wie die Menschen werden, die nackt unter der Sonne leben, ich wollte mich selber vergessen.»
«Und es gelang Ihnen nicht?»
«Viele Jahre sind hingegangen: aber als ich mich auf mich besann, blieb mir immer ebensoviel zu leben.»
Sie gingen weiter bis an das Dorf; alle Türen waren zugesperrt, die Fensterläden geschlossen: kein Licht, kein Laut drang heraus. Vor der
Goldenen Sonne
stand eine grüngestrichene Bank. Sie setzten sich darauf. Durch die Fensterläden drang das gleichmäßige Schnarchen eines Schläfers.
«Und dann?» fragte Regine.
Vierter Teil
Ich begann zu laufen, mein Herz schlug zum Zerspringen; die gelben Fluten waren mit Donnerlaut aus ihren Ufern getreten, sie wogten auf mich zu, und ich wußte, daß in dem Augenblick, wo ihr Schaum mich auch nur streifte, sich mein Körper plötzlich mit schwarzem Aussatz bedecken und zu Asche zerstäuben würde. Ich lief so schnell, daß meine Füße kaum die Erde berührten. Oben auf dem Berg winkte mir eine Frau: es war Caterina. Sie wartete auf mich. Sobald ich ihre Hand berührte, würde ich gerettet sein. Aber der Boden gab nach unter meinen Füßen, es war ein sumpfiger Grund, ich konnte nicht mehr laufen; auf einmal tat die Erde sich auf, ich konnte gerade noch meine Hand erheben und «Caterina» rufen, dann versank ich im glühenden Schlamm. Ich dachte noch: Diesmal träume ich nicht, jetzt werde ich endgültig sterben.
«Monsieur!»
Im selben Augenblick zerplatzte mein Traum wie eine Seifenblase. Ich schlug die Augen auf. Ich sah den Baldachin über dem Bett, das Fenster und hinter dem Fenster den großen Kastanienbaum, der seine Zweige im Wind wiegte; es war die gewohnte Welt mit ihren klar abgesetzten Farben, den deutlichen Konturen und starren Gewohnheiten.
«Der Wagen steht vor der Tür, Monsieur.»
«Gut.»
Ich schloß wieder die Augen. Ich preßte meinen Arm auf meine Augenlider; ich wäre gern wieder eingeschlafen, geflüchtet, anderswohin, nicht in eine andere Welt; denn wenn es überhaupt eine Welt war, war es dieselbe Welt; ich liebte meine Träume, weil sie anderswo spielten. Ich glitt an einem geheimnisvollen Faden auf die andere Seite des Himmelshinaus, auf die andere Seite der Zeit: da konnte mir nichts mehr geschehen, ich war nicht mehr ich selbst. Ich drückte meinen Arm stärker gegen mein Gesicht; goldene Punkte tanzten in dem grünen Dunkel, aber ich schlief nicht wieder ein. Ich hörte das Rauschen des Windes im Garten, den Ton von Schritten im Flur; ich hörte mit meinen Ohren, und jedes Geräusch war an seinem Platz. Ich war wach, und von neuem lag die Welt gefügig unter dem Himmel ausgebreitet, und mitten in dieser Welt ich selbst mit dem alten, stets gleichen Geschmack des Lebens auf meinen Lippen. Warum hat er mich aufgeweckt? dachte ich voller Zorn. Warum weckten sie mich?
Es war jetzt zwanzig Jahre her. Ich hatte lange Zeit in dem Indianerdorf zugebracht. Die Sonne hatte meine Haut verbrannt, sie hatte sich von mir losgelöst wie eine abgetragene Hülle, und auf meinen neuen Körper hatte ein Zauberer geheiligte Zeichen geritzt; ich hatte ihre Speisen verzehrt, ihre Kriegsgesänge mit angestimmt; mehrere Frauen waren einander unter meinem Dach gefolgt; sie waren braun, warm und süß. Auf einer Matte ausgestreckt, betrachtete ich im Sand den Schatten eines Palmenbaums; kaum einen Fußbreit davon entfernt lag ein großer Stein, der in der Sonne gleißte. Der Schatten würde den Stein berühren; ich wußte, daß er binnen kurzem den Stein berühren mußte, und dennoch sah ich nicht, wie er länger wurde; jeden Tag paßte ich auf, und niemals sah ich ihn länger werden. Schon war die Spitze der Palme nicht mehr ganz an dem gleichen Ort wie vorher und schien sich doch nicht zu rühren. Jahre, Jahrhunderte hätte ich damit zubringen können, den Palmenschatten zu beobachten, wie er sich erst dicht um den Fuß des Baums legte und dann heimlich streckte; vielleicht hätte ich mich darin völlig verlieren können: es hätte nur mehr die Sonne, das Meer, den
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